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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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einer Sonne. Alles ist Licht. Zeitgleich hört und spürt er den Riesen, groß wie ein Haus, gewaltige Füße walzen durch den Wald, zerstören alles und jeden. Das infernalische Krachen seiner Schritte erschüttert den Boden, lässt sein Bett beben. Dann schließen sich kräftige Arme um seinen Oberkörper, drohen seine Rippen zu zermalmen, ihn zu ersticken. Der blauschwarze
Odem des Riesen steigt vom Boden auf, greift nach ihm, fließt in seinen Mund, der nach Atem ringend weit geöffnet ist. Wie flüssiges Feuer gleitet er in seinen Rachen, verbrennt ihn innerlich, lässt auf seinem Weg nur Schmerz, Schmerz, Schmerz zurück. Das bisschen Luft, das er mühsam einatmet, lehrt ihn die Qualen der Hölle. Er zieht es vor zu ersticken …
     
    Seine Hände krampfhaft um den Hals geschlossen, schoss Sebastian in die Höhe. Seine Luftröhre brannte vom Rachen bis in die Lunge, schrie nach Atemluft. Hektisch tastend fand er in der Dunkelheit den Inhalator auf dem Nachtschrank, führte ihn an seinen Mund und drückte dreimal drauf. Sofort legte sich die Medizin beruhigend auf seinen Rachen, gelangte bis in die Lunge, erweiterte und entkrampfte dort die Gefäße. Die Linderung trat augenblicklich ein; seine Atemfrequenz wurde gleichmäßig, sein Herz hörte zu rasen auf. Das Gefühl, innerlich verbrannt zu sein, verschwand.
    Er stand auf, trat ans Fenster und öffnete es weit. Die hereinfließende Nachtluft war zwar nicht kühl, tat aber trotzdem gut, legte sich wie Balsam auf seine erhitzte Gesichtshaut. Anders als die verbrauchte Luft im Zimmer roch sie nach trockenem Gras, den Pferden und dem Harz der Kiefern. All das glaubte er riechen und schmecken zu können, obwohl die Medizin des Inhalators seine Geschmacksknospen eigentlich vorübergehend lahmgelegt hatte.
    Mit den Händen auf der Fensterbank abgestützt, lehnte Sebastian sich so weit wie möglich vor, ohne dabei aus dem Fenster zu fallen. Er schloss die Augen und sog die würzige Luft ein. Dies war nicht sein erster Erstickungsanfall, und es würde auch nicht der letzte sein. Er hatte gelernt,
damit zu leben, hatte sich mit seiner Krankheit abgefunden. Nachdem die Ärzte unisono erklärt hatten, dass er damit leben müsse , war es einfacher geworden. Und da es nur nachts auftrat, konnte er sich damit arrangieren.
    Nicht aber mit dem, was ihm beim Essen mit Saskia widerfahren war. Was, wenn die Krankheit sich veränderte, wenn sie begann, den Tag zu erobern? Sein Leben würde sich völlig ändern. Aber er wollte diesen Befürchtungen nicht zu früh Glauben schenken, denn wie ein typischer Asthmaanfall hatte es sich nicht angefühlt. Da war etwas anderes mit ihm geschehen, etwas, das er nicht einordnen konnte. Vielleicht eine allergische Reaktion auf irgendeine Zutat im Essen?
    Vielleicht, vielleicht, vielleicht …
    Und vielleicht sollte er es einfach vergessen. Sich auf den morgigen Tag freuen, auf Saskias Besuch hier auf dem Hof.
    Der Ruf eines Moorochsen schall vom See herüber. Ein dunkles, langgezogenes Hui-Wuuh , ähnlich dem Blöken einer Kuh, das in der nächtlichen Stille und Einsamkeit jedoch eine völlig andere, unheimliche Klangfarbe bekam. Eine leichte Gänsehaut breitete sich auf Sebastians Armen aus. Er schloss das Fenster, ging zurück ins noch warme Bett und fiel in einen traumlosen Schlaf.
    In dieser Nacht kam der Riese nicht mehr.

Mittwoch
    Sie hatte den Körper in den kühleren Keller geschafft, trotzdem war der Gestank innerhalb eines einzigen Tages unerträglich geworden. Als sei die alte Schachtel bereits zu Lebzeiten innerlich angefault gewesen, achtundachtzig Jahre altes Fleisch, in dem die Saat des Todes längst aufgegangen war und ihren Zersetzungsprozess begonnen hatte. Sobald sie die Kellertür öffnete, schlug ihr der Gestank wie eine massive Faust entgegen, kroch aber auch durch den Ritz darunter, wenn die Tür geschlossen blieb. Sie selbst hätte damit noch einige Tage leben können, aber es lag eine Gefahr darin, und deshalb musste sie handeln. Neugierige Menschen gab es mehr als genug auf der Welt. Leute wie dieser Postbote! Dem traute sie es zu, dass er vor dem Haus stehen blieb und mit seiner aufgedunsenen Säufernase den stechenden Geruch wahrnahm, der aus den Fensterschächten ins Freie drang.
    Bevor sie zur Tat schritt, spähte sie aus dem Obergeschoss noch einmal zum Fenster hinaus. Mitternacht war vorüber, draußen lag eine lichtlose Nacht zwischen den Häusern, leichte Wolken hatten sich vor die Sterne geschoben, die

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