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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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es, beruhige dich doch!«
    Er schlug die Augen auf, glaubte zu träumen. Nichts anderes
als ein Traum konnte es sein, denn nicht die hässliche Fratze des Riesen starrte ihn an, sondern ein wunderschönes Gesicht, eingerahmt von dunklem Haar, eine zarte Hand an seiner Wange …
    »Sebastian, hörst du mich? Ich bin es, Saskia!«
    Er blinzelte, hob den Kopf, sah sich um. Da war nirgendwo Wald! Er lag auf der weichen Couch in der Warteecke vor der Notaufnahme, bedeckt mit einer grauen Decke mit Krankenhausemblem. Ruckartig richtete Sebastian sich auf. »Mist! … ich … Wie lange habe ich geschlafen?«
    »Ich bin eben erst angekommen, ich weiß es nicht.«
    Er strampelte die Decke beiseite und stand mit Saskias Hilfe auf. Ein paar Schritte entfernt stand Uwe Hötzner und beobachtete sie mit seinem traurigen Dackelblick.
    »Was ist mit Anna?«, fragte Sebastian.
    Bevor Saskia ihm antworten konnte, wurde die Tür zum abgeschotteten Bereich der Notaufnahme von innen geöffnet. Ein Mann in grünem OP-Kittel und grüner OP-Haube trat heraus. Er war sehr groß und dünn, machte aber trotzdem nur kleine, kurze Schritte, da der Kittel ihn beim Gehen zu stören schien. Sebastian starrte ihn an. Es dauerte einen Moment, bevor ihm bewusst wurde, dass er diesen Arzt kannte. Es war Dr. Stühring. Sebastian versuchte, in dessen Gesicht, das müde und abgespannt wirkte, zu lesen, doch es gelang ihm nicht.
    »Wie geht es ihr?«, fragte er.
    Dr. Stühring schob sich mit der Rechten die Haube vom Kopf und fuhr mit den Fingern der Linken durch sein volles Haar.
    »Sie lebt … sie ist aus dem Gröbsten noch nicht heraus, und die nächsten vierundzwanzig Stunden sind entscheidend, aber sie lebt!«

    Der erste Weinkrampf überfiel ihn am Abend unter der Dusche. Er hatte gehofft, der warme Wasserstrahl würde den tranceartigen Zustand, in dem er sich seit der Rückkehr aus dem Krankenhaus befand, wegspülen, doch stattdessen schien das Wasser ihm die Tränen aus dem Leib zu pressen. Während es hart auf seinen Kopf prasselte und ihn in eine abgeschottete Welt hüllte, wurde es eng in seinem Hals, und sein Magen zog sich zusammen. Von Krämpfen geschüttelt, mit heißen Tränen in den Augen, sank Sebastian in der Duschkabine nieder. Minutenlang kauerte er in der engen Wanne und weinte. Und das nicht um seinen Vater und seine Mutter, sondern um sich, um seine verlorene Welt und den Betrug, dem er all die Jahre gutgläubig aufgesessen war. Irgendwann – Sebastian konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war – klopfte Saskia an die Tür des Badezimmers und fragte, ob alles in Ordnung sei. Er rief ihr durch das Rauschen hindurch etwas zu, mehr Laute als Worte, und rappelte sich mühsam wieder auf. Die letzten Sekunden ließ er kaltes Wasser über seinen Kopf rinnen, so kalt, dass sein Herz ein paar Schläge übersprang.
    Eine halbe Stunde später fand er Saskia und Uwe in der Küche. Sie saßen auf der Eckbank um einen Gartentisch. Den Küchentisch hatten die Techniker der Spurensicherung kurzerhand mitgenommen. Die merkwürdigen Blutzeichnungen darauf wurden im Labor untersucht.
    Saskia stand auf und schloss ihn in die Arme.
    »Wie geht es dir?«, fragte sie flüsternd an seinem Ohr.
    »Geht schon.«
    Sie setzten sich an den Tisch, einen Tisch, der so fehl am Platz war, wie man es sich nur vorstellen konnte. Saskia goss ihm warmen Tee in eine große Tasse. Sebastian beobachtete sie dabei und bemerkte ihre vom Weinen rot geränderten
Augen. Allein dieser Anblick ließ die Tränen in ihm selbst wieder aufsteigen. Mit trockenem Schlucken kämpfte er sie nieder.
    Uwe schob einen Ordner über den Tisch.
    »Was ist das?«, fragte Sebastian.
    Uwe seufzte schwer. »Ich weiß, dies ist sicher der unpassendste aller Augenblicke dafür … aber es muss jetzt sein. In diesem Ordner sind alle Unterlagen deiner Adoption enthalten.«
    Adoption!
    Das Wort hallte in Sebastians Kopf nach. Adoption. Ein Wort, das in seinem Sprachschatz bisher keinen Platz gehabt hatte. Über Nacht war es zu seinem Wort geworden, mit all seiner Verlogenheit und Hässlichkeit. Er berührte den verbogenen, vom Staub verfärbten Pappdeckel, strich mit den Fingerkuppen darüber, versuchte sich vorzustellen, wo der Ordner all die Jahre verborgen gewesen war. Schließlich schlug er den Deckel auf. Er wollte die alten, gelben Formulare gar nicht lesen, dazu fehlte ihm jetzt die Kraft und Konzentration, also überflog er sie nur, las hier und dort ein paar Worte. Dabei stieß er

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