Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
allein.
Der Junge sagte kein Wort, starrte reglos über die Wiesen ins Tal hinab. Kein Mensch konnte sich vorstellen, was jetzt in diesem Kopf vorging, dachte Uwe. Die Hölle musste toben darin.
Derwitz wartete ein paar Schritte entfernt. »Wie nimmt er es auf?«, fragte er.
Uwe starrte ihn aus feuchten Augen an. »Blöde Frage.«
Dafür fing er sich einen feindseligen Blick ein.
»Seine Mutter lebt«, sagte Derwitz.
»Was? Welche?«
»Die Frau oben im Schlafzimmer, sie lebt. Noch, muss man wohl sagen. Ihre Verletzungen sind schlimm, sie hat viel Blut verloren, aber sie hat schwache Vitalzeichen. Kann aber trotzdem sein, dass sie auf dem Weg ins Krankenhaus verstirbt, deshalb weiß ich nicht, ob Sie ihm das schon sagen sollten.«
Diese Entscheidung brauchte Uwe nicht zu treffen. Sebastian kam auf sie zu. Sein Gesicht war wie versteinert,
wirkte entschlossen, und Uwe wusste sofort, er würde ihn diesmal nicht daran hindern, ins Haus zu gelangen.
»Sebastian … warte!«, versuchte er es trotzdem und trat vor ihn. »Warte, geh noch nicht …«
»Ich gehe da jetzt rein, versuch nicht, mich aufzuhalten.«
In den Augen des Jungen blitzte Wut auf. Eine verständliche Reaktion, auch wenn sie sich gegen den Falschen richtete.
»Sebastian, Anna … deine Mutter, sie lebt!«
»Was!? Du … du …«
»Ich weiß … wir alle hielten sie für tot, aber sie lebt! Hauptkommissar Derwitz hat es mir eben gesagt, sie haben schwache Vitalzeichen gefunden. Sie bringen sie sofort …«
»Ich will zu ihr!«
Bevor Uwe noch etwas sagen konnte, stampfte Sebastian los. Derwitz trat zur Seite, ließ ihn vorbei und warf Uwe einen fragenden Blick zu. Er musste es nicht aussprechen, Uwe wusste auch so, worum es ging. Sebastian durfte nicht einfach ins Haus gehen und dort eventuelle Spuren zerstören. Wie er ihn aufhalten sollte, wusste Uwe allerdings auch nicht.
Er begann zu laufen, wollte zu dem Jungen aufschließen. Als der jedoch sah, wie zwei Sanitäter mit einer Trage aus dem Haus kamen und sie ins offene Heck des Rettungswagens schoben, wurde er so schnell, dass Uwe keine Chance hatte. Einer der Sanitäter wollte die Türen schließen, da erreichte Sebastian ihn, versetzte dem jungen Mann einen Stoß vor die Brust und riss die Tür wieder auf. Uwe kam gerade rechtzeitig, um ihn daran zu hindern, sich auf die Trage zu stürzen. Er packte Sebastian von hinten am Handgelenk,
drehte ihm den Arm auf den Rücken und schob ihn nach rechts weg. Sebastian schrie auf, Schmerz und Wut verliehen ihm ungeahnte Kräfte, mit denen er nun gegen den Griff ankämpfte.
»Lass mich los!«
Uwe drückte ihn an die Seitenwand des Rettungswagens. »Jetzt beruhige dich erst mal, so geht das nicht. Die Leute müssen ihre Arbeit machen. So hilfst du Anna nicht.«
»Aber ich will zu ihr!«
Uwe spürte, wie sich sämtliche Muskeln in Sebastians Körper erneut anspannten, wie er weiter dagegen kämpfen wollte, festgehalten zu werden, doch dieses Aufbäumen war nur kurz. Plötzlich verschwand die Spannung, und er fiel buchstäblich in sich zusammen. Uwe ließ ihn los. Statt den Jungen festzuhalten, musste er ihn jetzt stützen.
»Ich will doch nur zu ihr …«
Ein beängstigendes Zittern durchlief seinen Körper.
»Du kannst ja zu ihr, aber du darfst die Leute nicht bei ihrer Arbeit behindern. Du musst dich beruhigen. Hast du mich verstanden, Sebastian?«
»Kann … kann ich mitfahren?« Seine Stimme klang jetzt tränenerstickt.
»Ich weiß nicht, wir müssen fragen.« Uwe sah zum Heck des Fahrzeugs. Dort stand der Fahrer, den Sebastian weggestoßen hatte. Er hatte sie beobachtet und mitgehört und nickte nun.
»Okay, fahr mit.« Uwe ließ Sebastian los. »Ich habe hier noch zu tun, aber sobald ich fertig bin, komme ich nach. Bleibe bitte solange im Krankenhaus und warte auf mich. Hast du verstanden? Warte dort auf mich.«
Der Junge sah ihn an, nur kurz, und verschwand dann im Heck des Rettungswagens.
Nachdem der losgefahren war, starrte Uwe ihm noch eine ganze Weile hinterher, länger als er ihn sehen konnte. O Gott! Dieser letzte Blick des Jungen, dieser kurze letzte Blick! Vorhin, nachdem er Edgar und Anna gefunden hatte, hatte Uwe noch gedacht, für dieses Grauen gäbe es keine Steigerung, doch nun war er eines Besseren belehrt. Dieser letzte Blick war mehr gewesen, als ein Mensch ertragen konnte.
Verdammte Scheiße!
Eine Hand legte sich von hinten auf Uwes Schulter. Es war Derwitz.
»Kommen Sie, wir gehen rein«, sagte er.
Sie
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