Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
Ersatzmutter nach seiner Geburt. Nein, das würde niemals in seinen Kopf passen! Solche Geschichten mochten ja passieren, aber nicht hier, nicht in seinem Leben.
Nicht ihm!
Dann fiel sein Blick auf den billigen Plastiktisch, um den sie alle saßen, und er registrierte, dass es längst geschehen war. Sein Leben wurde in den Grundfesten erschüttert, und es schien nichts zu geben, was er dagegen tun konnte. Der Wahnsinn lauerte, wollte sich seiner bemächtigen, und es war nur die warme, weiche Hand auf seinem Unterarm, die ihn davor bewahrte. Gleich einem Rettungsanker hielt sie ihn im Leben, und Sebastian wusste, dass er es ohne Saskia nicht schaffen würde.
Wenigstens sie war ihm geblieben.
Montag
Der nächste Morgen bot strahlend schönes Wetter, und das wirkte absolut falsch und unangebracht. Sebastian kniff die Augen zusammen, als er vor die zerstörte Tür trat, ärgerte sich über die Sonne, die mit einem orangen Lichtspektakel über dem Wald auftauchte. Ein verregneter, wolkenverhangener Tag wäre ihm lieber gewesen; Wetter, das vor Blicken schützen und Spuren hinfortwaschen konnte. Stattdessen trübte keine noch so kleine Wolke den Himmel, und die Vögel übertrafen sich gegenseitig in fröhlichem Gesang.
Unwillkürlich fiel Sebastians Blick auf den langen Blutfleck an der weißen Stallwand. Schnell wandte er sich ab, spürte aber schon die Wirkung des Anblicks in seinem gesamten Körper.
»Und du willst wirklich hierbleiben?«, fragte Uwe Hötzner, der nach ihm die Stufen hinuntertrat.
Uwe hatte die Nacht im Gästezimmer verbracht, während Sebastian und Saskia im Schlafzimmer seiner Eltern geschlafen hatten. Nein, geschlafen hatten sie fast gar nicht. Es war eine unruhige, quälende Nacht gewesen, voller Fragen, auf die es keine Antworten gab, voller Zweifel und Schmerz.
Sebastian nickte. »Jemand muss sich um die Pferde kümmern, das hätte ich gestern schon tun müssen. Ich kann hier nicht einfach weg, unmöglich … Und ich will auch nicht fliehen müssen.«
Er bemerkte, wie Uwe ebenfalls zum Stall hinübersah. Er hielt dem Anblick des roten Flecks länger stand, nicht viel, nur Sekunden, bevor auch er wegsah, das Gesicht schmerzverzerrt.
»Aber versprich mir, vorsichtig zu sein. Du hast mehrere Waffen im Haus, die alle funktionstüchtig sind. Ich habe sie überprüft und geladen. Benutze sie, wenn es sein muss! Ich komme zurück, sobald es möglich ist, okay?«
Sebastian nickte nur. Er hatte gerade daran denken müssen, wie wenig es Edgar und Anna genutzt hatte, Waffen im Haus zu haben.
»Wann fährst du ins Krankenhaus?«, fragte Uwe, während sie über den Hof gingen.
»Sobald ich mich um die Pferde gekümmert habe, aber das wird wohl bis zum Nachmittag dauern. Am Telefon sagten sie mir eben, Anna liege noch im künstlichen Koma, und daran werde sich so schnell auch nichts ändern. Ihr Zustand ist aber stabil.«
»Das ist gut … das ist wirklich gut«, sagte Uwe.
Seine Worte klangen genauso falsch, wie es das Wetter war, außerdem hatte Sebastian den Eindruck, Uwe wollte noch etwas anfügen, etwas loswerden, das ihm schwer auf der Seele lag. Uwe war schon viele Jahre ein Freund der Familie, doch in diesem Moment, da der dicke Polizist auf dem Hof stand, zum Himmel hinaufsah und mit seinen Tränen kämpfte, wurde Sebastian diese Freundschaft erst richtig bewusst. Er sah Uwe an, wartete.
»Ich melde mich«, sagte der plötzlich und knapp, tätschelte Sebastian die Schulter und ging zum Wagen.
Er wollte seine Tränen nicht zeigen, warum auch immer.
Sebastian sah dem abfahrenden Dienstwagen nach. Als der hinter der Kurve verschwand, wurde es still auf dem
Hof. Nach und nach mischten sich gedämpfte Geräusche aus dem Stall in die Stille. Die Pferde warteten, hatten Hunger und Durst, wollten raus. Er musste unbedingt Lars anrufen, das schaffte er nicht allein. Würde der überhaupt kommen, nach dem, was hier passiert war? Sebastian fühlte sich angesichts dieser Aufgaben plötzlich so kraftlos, dass er es gerade noch bis zur Bank vor dem Haus schaffte, bevor er sich schwer darauf fallen ließ. Dann saß er einfach dort, starrte vor sich hin, und immer wieder wurde sein Blick geradezu zwanghaft angezogen von dem Blutfleck an der weißen Stallwand. Mit jedem weiteren Blick stieg ein heißes Gefühl in seinem Bauch auf, das nicht aus Schmerz und Trauer, sondern aus Wut geboren war.
Schließlich erlöste Saskia ihn aus seiner Starre. Sie setzte sich neben ihn auf die Bank und drückte ihm
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