Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
einen Becher heißen Kaffee in die Hand.
»Wie geht es dir?«, fragte sie leise.
Sebastian zuckte mit den Schultern. Ein paar Minuten vergingen schweigend; sie tranken Kaffee, Saskia half ihm beim Starren.
»Es ist nur eine Täuschung, oder?«, fragte Sebastian dann.
»Was meinst du?«
»Die Idylle hier, die Friedfertigkeit. Sie ist wie eine dünne Lackschicht, unter der sich der Rost trotzdem weiterfrisst. Unbemerkt zunächst, bevor er dann irgendwo durchbricht. Edgar und Anna wollten das nie wahrhaben. Sie waren fest davon überzeugt, ihre Welt hier oben würde anders ticken. Auf ihre Art waren sie wirklich naiv.«
»Es ist trotzdem eine schöne Welt … vielleicht genauso gefährlich wie überall, aber viel schöner. Ich kann die beiden verstehen.«
Sebastian sah Saskia an. Ihre Augen glänzten feucht. Ihr Kehlkopf hüpfte auf und ab. Mit vielen kleinen Schlucken aus der Kaffeetasse bekämpfte sie mühsam die Tränen.
»Ich mag dich nicht allein lassen, nicht mal für ein paar Stunden«, sagte Saskia schließlich.
»Mach dir keine Gedanken, ich komme schon zurecht. Die Arbeit mit den Pferden dauert sowieso eine ganze Weile. Fahr ruhig, wir treffen uns später im Krankenhaus.«
»Es fällt mir schwer, wirklich, aber ich kann den Termin für heute nicht mehr absagen. Aber die nächsten Tage mache ich frei! Ich lasse dich nicht allein hier.«
Sebastian legte seinen Kopf an ihre Schulter. Sie zog ihn zu sich heran und fuhr mit den Fingern durch sein Haar.
»Ich habe Angst um dich«, flüsterte sie.
»Das musst du nicht, ich passe schon auf mich auf. Fahr ruhig in die Stadt. Hauptsache, du kommst zurück. Ich brauche dich nämlich.«
Sie küssten sich, dann begleitete Sebastian sie zu ihrem Wagen. Wenig später sah er zum zweiten Mal an diesem Morgen Rücklichter am Hang verschwinden, wieder wurde es still, doch diesmal überkam ihn das Gefühl der Einsamkeit mit der Wucht eines Hammerschlags. Mitten auf dem Hof stehend drehte Sebastian sich im Kreis, starrte hier und dort hin, meinte plötzlich die Anwesenheit von etwas Bösem zu spüren. Er war längst nicht so zuversichtlich, wie er sich Saskia gegenüber gegeben hatte.
Schnell ging er ins Haus und zog sich um. Dabei musste er auf Edgars Kleidung zurückgreifen, weil sein Schlafzimmer oben abgesperrt war. Der Raum war noch nicht freigegeben. Überhaupt fiel ihm erst jetzt das Chaos auf,
das die Spurensicherung hinterlassen hatte. Überall Reste des grauen Staubs vom Sichern der Fingerabdrücke; in der Diele, auf der Treppe, auf dem oberen Flur …
Beinahe fluchtartig verließ er das verunstaltete Haus, schnappte sich Forke und Schubkarre und begann mit der Arbeit im Stall. Sie befreite seine Gedanken, sperrte die Angst in eine sichere Zelle, bis er irgendwann einen Wagen auf den Hof rollen hörte. Ein Blick auf die Uhr; eine Stunde war vergangen. Er war mittlerweile verschwitzt und schmutzig, fühlte sich aber etwas besser. Gewohnheiten halfen scheinbar mehr als Medizin.
Sebastian trat aus dem schattigen Stall in die Sonne, blinzelte ins helle Licht. Es war Hauptkommissar Derwitz, der eben aus seinem Wagen stieg. Seine hoch aufgeschossene Gestalt warf einen langen Schatten auf den Hof. Er sah unausgeschlafen und grimmig aus. Nach einer knappen Begrüßung bat der Kommissar um den Ordner mit den Adoptionsunterlagen. Hötzner hatte ihm davon berichtet. Sebastian holte den Ordner aus der Küche und übergab ihn.
»Sie arbeiten im Stall?«, fragte Derwitz, und Sebastian entging der beißende Unterton nicht.
»Soll ich die Pferde sterben lassen?«, schnappte er zurück.
Derwitz sah ihn nur an. »Wir brauchen Sie im Dezernat. Können Sie es heute noch einrichten?«
»Ich fahre später ins Krankenhaus. Wie lange wird es denn dauern?«
Derwitz zuckte mit den Schultern. »Solange es eben dauert. Sagen wir um siebzehn Uhr. Und bringen Sie bitte Frau Eschenbach mit. Sie wird sicher bestätigen wollen, dass Sie die Nacht bei ihr verbracht haben.«
Er hob zum Gruß den Ordner an, warf sich in seinen Wagen und verschwand.
»Arschloch!«, rief Sebastian ihm nach.
Uwe hatte ihn davor gewarnt, dass er zunächst noch als Verdächtiger galt. Es hatte Sebastian nicht wirklich überrascht, aber Derwitz’ Verhalten rechtfertigte das trotzdem nicht. Der Typ war wohl von Natur aus ein Mistkerl.
Bis zum Mittag blieb es dann still auf dem Schneiderhof. Sebastian füllte die Zeit mit Arbeit aus, dachte nicht, fühlte nicht, sah nicht auf. Er schuftete, bis ihm das
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