Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
auf den Namen Ellie Brock und eine Adresse in Ralsdorf. Er tippte mit dem Finger darauf.
»Feldweg 9 in Ralsdorf … das ist nicht weit entfernt, eine Stunde, wenn man durch den Wald geht. Ist sie das?«
Uwe nickte.
»Ja. Und Ellie Brock war Annas Schwester.«
»Was?«
»Ellie Brock, die Frau, die dich zur Welt gebracht hat, war Annas Schwester«, wiederholte Uwe.
Sebastian sah ihn an. »Dann ist Anna also meine Tante?«
Uwe nickte nur.
Saskia berührte ihn am Arm. »Nein, das stimmt nicht. Anna ist deine Mutter, und Edgar war dein Vater. Ich habe doch gesehen, wie sie mit dir umgegangen sind, sie haben dich geliebt. Und das ist doch alles, was zählt. Du darfst das jetzt nicht anders sehen.«
Sebastian schob ihr mit einer heftigen Bewegung den Ordner zu. »Hier drin steht etwas anderes! Hier steht, ich bin das leibliche Kind von Peter und Ellie Brock.«
Er schüttelte den Kopf, presste sich die Handflächen auf die Augen, weil er das Gefühl hatte, sie würden ihm aus dem Kopf springen, und sah Uwe dann wieder an.
»Warum wurde ich zur Adoption freigegeben? Was war der Grund?«
»Der Tod deiner leiblichen Eltern.«
»Aber …«
»Ich weiß«, unterbrach Uwe Sebastian. »Es steht so in den Unterlagen, und deine Eltern, also Edgar und Anna, lebten in dem Glauben, deine leiblichen Eltern seien tot. Jetzt besteht aber doch die Möglichkeit, dass Ellie Brock noch lebt. Ich weiß nicht, was damals verkehrt gelaufen ist, woher diese falsche Information stammte. Nach so vielen Jahren lässt sich das auch nicht mehr feststellen.«
Sebastian schüttelte den Kopf. »Also lebt sie und ist auf der Suche nach mir? Willst du mir das sagen?«
»Ich wünschte, ich könnte dir darauf eine Antwort geben, aber ich weiß es ganz einfach nicht. Aufgeschreckt durch die Briefe und Taifuns Tod bat Edgar mich, Nachforschungen anzustellen, was ich auch getan habe. Doch alles, was ich in der kurzen Zeit herausfinden konnte, ist, dass Ellie Brock damals nicht umkam, sondern in eine Nervenheilanstalt eingewiesen wurde. Diese Einrichtung wurde
vor Jahren geschlossen, und sicherlich gibt es Unterlagen darüber, was mit der Frau geschah, ich konnte mich aber noch nicht darum kümmern. Und jetzt darf ich es nicht mehr, weil KHK Derwitz die Sache übernommen hat.«
Sebastian fixierte Uwe Hötzner. Bei seiner nächsten Frage wollte er sehen, was in den Augen des Polizisten vorging. »Aber du hast eine Meinung, nicht wahr? Glaubst du, diese Ellie Brock hat das getan?«
Uwe wich seinem Blick nicht aus. Sebastian konnte sehen, wie er mit der Antwort rang, wie er Worte gegeneinander abwog und wie schwer es ihm fiel, die Wahrheit nicht von der Rücksicht auf seine Gefühle beeinflussen zu lassen.
»Ich weiß es nicht, ich kann mir noch immer nur schwer vorstellen, dass eine Frau zu so etwas fähig sein soll … Aber es spricht leider vieles dafür … Hinweise, Indizien.«
»Was für Hinweise?«
»Diese Briefe natürlich. Und nachdem du Taifun gefunden hattest, erzählten Anna und Edgar mir eine Geschichte, die auch ziemlich eindeutige Parallelen aufweist.«
»Muss das denn jetzt sein?«, fragte Saskia. »Du solltest dich vielleicht besser hinlegen.«
»Ich will es hören«, sagte Sebastian tonlos.
Uwe nickte und trank von seinem Tee, bevor er antwortete.
»Damals gab es einen ähnlichen Vorfall, dem zunächst niemand viel Bedeutung beimaß. Als Ellie Brock schwanger war, erstach sie in ihrem Vorgarten die Katze eines Nachbarn mit einer Mistgabel. Sie erzählte Anna später, dass sie es tat, weil Katzen kleinen Kindern nachts den Atem stehlen würden.«
Sebastian spürte, wie sich Saskias Finger um seinen Unterarm verkrampften.
»Den Atem stehlen?«, wiederholte sie leise.
»Ja, ein altes Schauermärchen. Katzen schleichen sich nachts auf die Betten der Kinder und stehlen ihnen den Atem. Das war einmal eine bösartige Erklärung für den plötzlichen Kindstod. Ellie Brock hat wohl daran geglaubt und wollte ihr ungeborenes Kind schützen.«
»Wie entsetzlich«, hauchte Saskia.
Uwe nickte. »Aber das ist leider noch nicht alles.«
»Was kommt jetzt noch?«, fragte Sebastian.
»Ellie Brock erschlug ihren eigenen Ehemann … deinen Vater … ein paar Monate, bevor du geboren wurdest.«
Eine Zeit lang herrschte Stille in der Küche. Sebastian versuchte, das Unbegreifbare in seinen Schädel zu bekommen. Seine Mutter tötete seinen Vater vor seiner eigenen Geburt, und wahrscheinlich tötete sie auch seinen Ersatzvater und seine
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