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Härtling, Peter

Härtling, Peter

Titel: Härtling, Peter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hölderlin
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dreifach getragenem Unterzeug.
    Er wird in seiner Zelle gesessen haben, in Bengels Predigten lesend, die Feder zwischen den Fingern zwirbelnd, vor dem Fenster die beschneiten Bäume: eine Idylle für junge Poeten. Manchmal schüttelte ihn der Frost. Dann zog er die Kleider fester um sich, rieb sich die Hände. Hin und wieder schaute Bilfinger, der ihm nächste Freund, zu ihm herein, setzte sich aufs Bett, sie redeten über Lehrer, Mitschüler, über daheim und die Aussicht, bald in Maulbronn zu sein, wo es, wie sie hofften, angenehmer werden würde, oder Hölderlin las eines seiner Gedichte vor, vielleicht die Strophen über die Nacht, voller angelesener Bilder und geübter Frömmigkeit: »So ruht er, allein des Lasters Sklaven / Quält des Gewissens bange Donnerstimm, / Und Todesangst wälzt sie auf ihren weichen Lagern, / Wo Wollust selber sich die Rute hält.«
    Was da, am Schluß des Gedichts, unvermutet und kaum verhüllt, zur Sprache kommt, wird die Kinder oft in Not gebracht haben. Die Angst vor den Lehrern, ihrem Hohn und den folgenden Strafen, das Mißtrauen gegenüber Mitschülern – und doch, immer wieder, die Versuchung, nachts über den Gang zu huschen, sich aneinander zu wärmen, zueinander zu schlüpfen wie Tierjunge. Das Selbstverständliche, Kreatürliche wurde zum Fluch in den Drohungen der Erzieher, unter denen es wiederum den einen oder anderen gab, der heimlich nach den Buben faßte. Was für ein Satz: »Wo Wollust selber sich die Rute hält« – Lust und Strafe in einem. Aber er hatte es kindlich aus der Situation geschrieben, und so verstand es auch Bilfinger.
    Nun versuchte er, Jesu Geburt in Worte zu fassen, die Botschaft, und versichert sich der Hilfe anderer. Hör zu, Christian, sagt er zu Bilfinger, findsch des guet so?
    »… O! Teuerste Zuhörer! sollte wohl jemand unter uns sotief im Schlamm der Sünde versunken sein, daß nicht ein tiefes Gefühl des Dankes und der Freude in ihm erwachte? besonders zu der wirklichen Zeit, wo vor mehr als 17hundert Jahren dieser große Tag erschienen ist, der dem Menschengeschlecht ihren Heiland brachte. Nein! Wir wollen das Irdische fahren lassen, und die Freude über die heilreiche Geburt Jesu Christi ganz genießen. – Jede Stunde soll ihm gewidmet, jede soll des fröhlichsten Dankes und Lobes voll sein, und auch diese soll dir, ewiger Gottmensch, geheiligt sein. Laßt uns aber den Herrn zuvor um seinen Segen anrufen, und also beten –:«
    Und sie beteten mit ihm.
    Er sprach aus einem von solchen Sätzen erfüllten Gedächtnis. Seine Kindheit tönte von ihnen wieder. Die Mutter wußte sie auch züchtigend auszuspielen. Und alles, was außerhalb dieser Wörterwelt sich befand, fremd, womöglich verlockend, wovon man mitunter träumte und was einen heiß machen konnte, diese Abenteuer, die doch noch keine Sprache hatten, alles das sammelte sich unter dem Begriff Sünde, dem sich viele Wörter rasch zuordnen ließen. Wörter wie Schlamm, Wollust, Finsternis, Gottlosigkeit, Leiblichkeit.
    Sie hatten ihm zugehört, zum ersten Mal. Sie hatten ihn gelobt, er habe schön und lehrreich geredet. Die Mutter wird stolz gewesen sein, auch Rike und Karl.
    Nicht, daß er sich aus alledem wegwünschte. Aber er dachte schon Wörter, Sätze, die ihn aus der lernenden Enge lösten. Einige der Freunde wußten es. »Eben so mächtigen Einfluß auf unsere Glückseligkeit hat die gewisse Hoffnung eines besseren Lebens.« Was stellte er sich darunter vor? War es die Vision eines Pietistenknaben? Was verstand er unter »Glückseligkeit«? Schrieb er auch hier nur nach?
    In den Herbstferien von 1786, kurz vor dem Umzug ins Kloster Maulbronn, wandert er mit Bilfinger, dem »Herzensfreund«, in das Uracher Tal, »dort sind die Hütten des Segens / Freund! – du kennest die Hütten auch«: eine Landschaft für Kinder, die sich Vergangenes erträumen wollen, die wie aus alten Bilderbogen ausgeschnittene Stadt im tiefen Tal, hoch über ihr die Ruine der Festung und der Wall von Felsen, an denen krüppelige Bäume hochklettern, Höhlen in dem Gestein, die ihre Geschichte haben, in denen Bärenknochen gefunden wurden, und auf dem Hin- und Heimweg der Wasserfall, dieses pathetische Stück Natur. DasGedicht, ausschwingender als alle vorhergegangenen, beschreibt einen Ausbruch, die Annehmlichkeit einer mit dem Freund geteilten Freiheit. Der Weg durch die Wälder, über Feldwege, durch Metzingen und Eningen. Rast in Wirtshäusern, hin und wieder ein Glas Wein. Unterhaltungen, bei

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