Härtling, Peter
blakenden Öllicht hält er sie zusammen. Komm, Bilfinger, lupf deinen Rock, zieh die Beinkleider runter, wenn schon, dann auf den blanken Arsch. Oder meinst du, wir sollten etwas andres ausprobieren? Nix meinsch, des han i mer denkt. Findesch zehn Schläg passabel oder fuffzehn? Wieder meinsch nix. Also fuffzehn. Meinsch des?
Bilfinger, der bis zu diesem Augenblick Hölderlin gehalten hatte, ließ ihn los, zog, wie befohlen, nachdem er die Hose heruntergelassen hatte, die Kutte über die Hüften, beugte sich, streckte dem Prälaten seinen Hintern entgegen und ließ, ohne das Gesicht zu verziehen, fünfzehn Schläge niederklatschen; jeder einzelne Hieb zeichnete eine schwellende Strieme. Vierzehn Schläge, einen weniger, erhielt Fink. Hölderlin hatte bereits die Hose über die Knie gestreift, den Rock hochgenommen, doch der Präzeptor ließ den Stock sinken, grinste, er wolle den Alumnen Hölderlin schon wegen seiner schwachen Gesundheit verschonen, diese Schandtat vielmehr seiner Mutter in allen erdenklichen Einzelheiten mitteilen. Was, wie Erbe wußte, für den Jungen, der die ängstliche Frau vor allem behütet sehen wollte, eine ungleich gemeinere Strafe bedeutete als Schläge. Darum erwartete der Prälat auch Widerspruch. Der kam nicht. Hölderlin starrte ihn an, wie durch einen übergroßen Schrecken verstummt, und senkte nach einiger Zeit den Kopf.
Des isch dir also recht, fragte Erbe.
Der Prälat entließ die Jungen; sie zogen die Hosen hoch, verbeugten sich, schlichen auf Zehenspitzen fort. Du bisch verrückt, sagte Bilfinger, der erzählt deiner Mutter das ärgste, lauter erfundenes Zeug.
I woiß, sagte er.
Warum hast du nichts gesagt, fragte Fink.
I woiß net, sagte er, wirklich net. I war wie krank.
Des han i g’merkt, sagte Bilfinger.
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V
Maulbronn
Ich erfinde Gestalten, die es gegeben hat. Ich schreibe das Drehbuch zu einem Kostümfilm. Längst ist er mir vertraut. Ich projiziere, nachdem ich in seinen Briefen und Gedichten gelesen habe, meine Gefühle auf seine Handlungen. Es steht alles fest: Am 18. Oktober 1786 ist seine Promotion in das Kloster Maulbronn eingezogen. Ich könnte die Namen derer aufzählen, die zu seinem Jahrgang gehören, berichten, was sie erhofft hatten, – und was aus ihnen geworden ist (meist verdrossene Landpfarrer). Die Forschung war fleißig; die Szene ist ausgeleuchtet. Und wenn es mich vergnügte, könnte ich, eine Truppe von Komparsen in Unruhe versetzend, alles zu bunten Bildern ordnen: die zeremoniellen Auszüge und Einzüge, die Spaliere beim Besuch hoher Personen. Die Kulissen sind noch vorhanden: Denkendorf und Maulbronn. Sicher, man müßte dieses und jenes erneuerte Fenster, diese allzu moderne Tür, manche Fernsehantenne kaschieren, und es fiele schwer, im Originalton zu drehen, da Autos zu hören sind und ab und zu ein Düsenflugzeug über die alten Bauten jagt; doch in den Momenten der Stille, wenn zufällig der Strom der Autos auf der nahen Straße abreißt, kein Flugzeug kommt, hört man die Vögel singen, das Wasser im Brunnen und, sehr fern,jemanden rufen. Vielleicht ist es so gewesen. Nein, so war es auch nicht. Er hörte die Welt anders als ich. Sie war leiser, hatte andere Grundgeräusche.
Ich weiß, er wird in zwei Wochen Louise Nast kennenlernen, seine erste Liebe. Ich habe die Briefe der beiden gelesen, und Louise ist vielfach beschrieben worden. Weshalb also fürchte ich mich vor dieser Geschichte? Immer wieder setze ich an, ihn zu finden. Ich möchte ihn bewegen können wie eine meiner erfundenen Figuren. Ich traue mich nicht, traue es mir nicht zu. Er widersetzt sich mit dem, was er geschrieben hat. Manchmal träume ich von ihm. Aber so, als träumte ich von einem, der gespielt wird von einem anderen. Denke ich, nach dem Erwachen, an ihn, ärgere ich mich über meine Vertrautheit mit einer bewegten Kopie.
Ich lese in Biographien: »Er setzte sich und sagt«, frage mich, weshalb der Biograph seinen längst dahingegangenen Zögling sich setzen läßt, wenn er, weil der Biograph es so will, sagen muß: »Übermorgen, meine liebe Constanze, reisen wir nach Salzburg.« Der Biograph hat sich offenbar eine Bühne eingerichtet, auf der sich seine Personen verhalten wie in einem Konversationsstück. Mir fällt ein, daß man auf den Stühlen von damals sehr gerade sitzen mußte; es fällt mir ein, doch wenn ich ihn dann sitzen lasse, später, werde ich nicht daran denken, und er wird sitzen wie ich. Solche Erwägungen holen ihn wieder
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