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Härtling, Peter

Härtling, Peter

Titel: Härtling, Peter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hölderlin
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einen anderen Text versuchte, befand sich nicht mehr im schützenden Gehege der Bürgerlichkeit. Später würde es Zusammenbrüche und Fluchten geben. Bei vielen.
    In den Ferien wanderte er nach Nürtingen. Er mußte wohl erzählen. Bei Bilfingers ging er ein und aus. Kraz und Köstlin werden begierig gewesen sein, von seinen Fortschritten zu hören, an welcher Stelle er sich in der Promotion befinde. Das änderte sich nicht. Immer konnte er sagen: an sechster. Renz ist der Erste. Offenbar hatten die Lehrer sich festgelegt. Sie waren nicht willens, zu korrigieren. Es war ein bequemes Muster.
    (Ich möchte erzählen. Aber diese Wirklichkeiten sind nicht übertragbar, meine Erinnerung findet keine Vergleiche. Ich lese, lese. Magenaus Beschreibungen, Hölderlins Briefe an die Mutter, Johannas Ausgabenverzeichnis, den Stundenplan der Denkendorfer Schule, es sind Wirklichkeiten von einst. Ich wünsche mir, daß er »meine« Figur sei; er kann es nur dort sein, wo er sich selbst nicht und wo ihn kein anderer bezeugt.)
    Um fünf werden sie im Sommer geweckt. Im Winter um sechs. Da ist es noch Nacht. Die Zimmertüren werden aufgerissen. Der Lärm erreicht die Buben nicht, sie haben sich an ihn gewöhnt, würden auch ohne ihn aufwachen, längst schon dressiert – aber danach herrscht wieder Stille, denn sie sind noch nicht imstande, miteinander zu reden, sich zu hänseln, durch Scherze zu helfen, sie sind betäubt vom Schlaf, halb wach fügen sie sich der Ordnung. Sie schlüpfen in die Kutten, ihre Uniform, die sie den ganzen Tag anhaben werden. Sie stinken, sind nie sauber. Aber sie merken den widerlichen Geruch nicht, sie hausen in ihm. Sie tappen über die Korridore zum Morgengebet. Einer von ihnen muß ein Kapitel aus dem Alten Testament vorlesen. Sie hören ihm nicht zu, holen Schlaf nach. Den treibt ihnen die Morgenkälte endgültig aus, wenn sie danach Wasser vom Brunnen im Hof holen müssen. Im Winter schlagen sie die dicken Eiszapfen vom Rand. Sie waschen sich Gesicht und Hände. Ein paar fahren mit den nassen Händen unter die Kutte. Das geht schnell. Ebenso schnell schlingen sie die Morgensuppe herunter, einen dünnen Gerste- oder Hirsebrei. Dem einen oder anderen wird übel davon.
    Hatten sie Alpträume? Flüchteten sie nachts zueinander?
    Fürchteten sie sich vor jedem neuen Tag? Solche Alltäglichkeiten sind nicht überliefert worden.
    Sie waren abgehärtet, »dumme Ideen« wurden ihnen ausgetrieben, daß ’r bloß net ins Sinniere kommet! Noi, des gibt’s net!
    Von sechs bis sieben Hebräisch.
    Danach eine Stunde Privatstudium, was aber nicht heißt, daß sie sich hätten zurückziehen können, sie blieben unter ständiger Aufsicht, es wurde ihnen über die Schulter geschaut: Da hasch scho wieder en Fehler g’macht, Hölderlin, kannscht d’r die Konjugation net merke? Diese Fuchtel, die einen niederhält. Ja, ja, i paß scho auf und danke gehorsamst. Dann wieder, von acht bis neun Hebräisch und eine nachfolgende halbe Stunde Privatstudium; von halb elf bis elf Andacht, Chorandacht, sie singen deutsch und lateinisch, wieder wird vorgelesen.
    Um elf Uhr Mittagessen, »das meistens so beschaffen war, daß man nur wenig genießen konnte«.
    Sie schlingen es gegen den Hunger hinunter. Nach dem Essen dürfen sie sich zur Rekreation zurückziehen in die Zellen, auf das Dorment. Die Ruhe dauert bis eins. Dem folgt eine Stunde Privatstudium und Musikübung (Hölderlin nahm weiteren Klavierunterricht beim Speismeister des Klosters – was sich kurios anhört, und es war nicht herauszufinden, weshalb der Küchenobere auch Piano lehrte, denn er mußte, um dem Buben noch etwas beibringen zu können, über gute Kenntnisse verfügen; vielleicht ging es ausschließlich um den zusätzlichen Verdienst: jeder im Kloster, der den Schülern auch nur irgend etwas zugute tat, mußte von den Eltern entlohnt werden).
    Von vierzehn bis fünfzehn Uhr wurde im Griechischen aus dem Neuen Testament gelesen, übersetzt, und in Latein mit Ovids »Tristia« gearbeitet.
    Nach einer weiteren Stunde Privatstudium, in die Latein und Griechisch mitgenommen wurde, erneut Griechisch, doch diesmal die »Cyropädie« des Xenophon und Rhetorik.
    Wieder Privatstudium, diese Kärrnerei unter Aufsicht. Eine halbe Stunde vor dem Abendessen, zu dem man sich pünktlich jeden Abend um sechs im Refektorium trifft, Chorandacht, die sich freilich übers Essen fortsetzt, denn da liest einer (freigestellt und sein Essen später allein einnehmend) ein Kapitel

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