Härtling, Peter
Leben, ein durchaus Vermögender, der sich vor Not nicht fürchten mußte – er ging, weil er es hatte, mit Geld selbstverständlich um) und aus pietistischem Geist, aus der keineswegs oberflächlichen »Wohlerzogenheit« empfiehlt er sich der geliebten Großmutter Heyn. Der Brief ist abgewogen, ausgeklügelt, so spontan er sichbis auf den Tag anhört. In diesem Brief spricht ein junger Herr.
Dennoch versteckt er sich, macht sich klein. Die vielen Pflichten halten ihn in Atem. Er möchte ihnen gewachsen sein. Sein Eifer ist ehrlich, entspricht vertrauter Übung: Lerne muescht, Büble, daß d’ was wirscht.
Die »Rede«, auf die er hinweist, die er am Johannistag, am 27. Dezember, zu halten hat, wird eine Predigt sein. Hat ihn die Mutter über die Festtage, gemeinsam mit den Geschwistern, Karl und Rike, besucht? Hat er ihnen probeweise seine Predigt vorgetragen? Wenn sie gekommen sind, wird es so gewesen sein. Sie wissen ja, wie er vorträgt. Er tut es gern, mit Schwung. Des wird g’falle, sagt Johanna. Oder sie sagt: Des hasch guet g’macht, zum Wohlgefalle unsres Herrn. Was sie hört, ist ihr nah. Es ist die Sprache der großen Pietisten Bengel und Oetinger, es ist der Wortschatz ihrer Welt.
Es gibt vor und nach diesem hohen Fest, dem sich die Alumnen vorbereitend widmen, Auftritte, die im Grunde unvorstellbar sind, aber verbürgt. Nur wenige Zeugnisse haben die Niedrigkeit der Erzieher festgehalten, häufiger sind Schweigen und Liebedienerei. Der Prälat Johann Jakob Erbe, der Denkendorf nach seinen Gaben regierte, zählte zu jenen, die den Oberen die Füße lecken und den Schwächeren diesen Dienst nach Kräften heimzahlen. Er muß ein Sadist gewesen sein, durch und durch verdorben und korrupt. 1778, als die Karlsschule, die »herzögliche Militärakademie«, ihren achten Jahrestag feierte, erging er sich in Anbetung vor dem Fürsten, krümmte sich nach allen Regeln der Dienerkunst, führte seinen Zöglingen vor, wie ein Knecht des weltlichen und des himmlischen Herrn sich rhetorisch zuverhalten habe: »Wir sahen Höchst-Ihre ausnehmendste Gnade, und Recht: Ihre außerordentliche Aufmerksamkeit und Gedult: Ihre ausbündige Weisheit, und Kenntnisse …« Diese speichelnde Sprache konnte ätzend werden, wenn es darum ging, die Zöglinge zu erniedrigen, ihren Vätern oder Müttern klarzumachen, daß es an Gaben noch fehle, denn schließlich habe, so Rudolf Magenau, ein späterer Geistlicher seine Primusstelle damit bezahlt, »daß er den Prälaten von Fuß auf kleidete«. Geiz, Heimtücke, Niedertracht und Unverschämtheit seien die Hauptzüge seines Charakters gewesen. Oft sei er unvermutet in die Zellen gestürzt, habe gescholten, auch wenn es nichts zu schelten gegeben habe, nur um die Schüler einzuschüchtern, und hätte er einmal Alumnen beim Schach oder beim Domino angetroffen, dann hätten sie nur Ablaß erhalten, indem sie ein bogenlanges Vergebungslied dichten mußten. Wehrte sich gar ein Vater eines derart kujonierten Knaben, half nur noch finanzieller Ablaß. Es sei ihm ohnedies ein Vergnügen gewesen, vor den Schülern über deren Eltern zu höhnen. Einem, dessen verwitwete Mutter wieder heiratete, bezeichnete er die Frau als »geiles Ding«.
Kein Wort über ihn bei Hölderlin.
Indirekt doch; und da eifert er eher dem Prälaten nach in seinem Dank an die Mächtigen, »an die Lehrer«, die, wie den Fürsten, »Ruhm und Ehre krönen möge«: »Und was ist wohl für Euch die schönste Krone? / Der Kirche und des Staates Wohl, / Stets eurer Sorgen Ziel. Wohlan, der Himmel lohne, / Euch stets mit ihrem Wohl.«
Die Konvention führt die Feder des Fünfzehnjährigen. Er hat es nicht anders gelernt. Noch kann er den Zorn unterdrücken, noch flieht er nicht vor den handfesten, denübermäßig Tätigen. Der Auftrag der Mutter, lieb zu lernen, macht ihn vorsichtig.
In den Tagen vor Weihnachten wird viel gesungen, die Jungen müssen beim Lesen der Geburtsgeschichte, dem Text aus Lukas, längst nicht mehr in die Bibel sehen, sie können sie auswendig. Pakete kommen, das Eintreffen von Boten wird jedesmal mit größter Spannung beobachtet, von wem?, für wen?, und die Ausflüge über den Hof in die Wirtschaftsküche, eigentlich verboten, häufen sich, denn auch dort werden »Gutsle«, das Weihnachtsgebäck, in den Ofen geschoben, eine Partie nach der anderen, der Duft ist betäubend, erinnert an zu Hause.
Die Kälte aber macht ihnen mehr denn je zu schaffen, ihre Kutten bauschen sich über doppelt und
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