Härtling, Peter
aus dem Neuen Testament, und ein gemeinsamer Choral ist selbstverständlich. Wer will (und es werden alle gewünscht haben), kann sich hernach für eine halbe Stunde auf die Stube zurückziehen, ausruhen, bis zum Gebet. Zur »Lukubratio«, Kollegien bei Licht (und einem schlechten, dauernd rauchenden dazu), trifft man sich wieder. Da widmen sich die Lehrer noch einmal den einzelnen, vor allem jenen, die sich tagsüber als verstockt und wenig wendig erwiesen hatten, den Mäßigeren, sie werden, damit die Übungen des Tages in die Träume eingehen, noch einmal unterwiesen.
Sie gehen in ihre Zellen. Sie sollten beten vorm Einschlafen. Manche werden es, Pfarrerskinder, aus Gewöhnung tun, nachdem sie, endlich, die Kutte vom Leib gestreift haben. Andere fallen, ohne jeden Gedanken an den Herrn, in einen Schlaf, in dem die Ängste nicht aufhören. Ich kann mir denken, daß in den ersten Wochen manche, die Decke übers Gesicht gezogen, geweint haben. Vielleicht auch er, der Sanfte und Nachgiebige. Der sechste.
Aus Denkendorf hat er nicht nur den nach einem neuen Vater suchenden Brief an Köstlin abgeschickt, sondern auch den ersten erhaltenen Brief an die »Liebste Mamma!«. (Er schreibt Mama mit zwei M, so wie er dasWort spricht, schwäbisch, mit zwei kurzen dumpfen A, das erste ein wenig mehr betont als das zweite. Das der Konvention entsprechende Sie ist uns fremd; es fällt mir schwer, es in erfundenen Dialogen zu gebrauchen, doch ich weiß längst, daß es sich in der zärtlich-kindlichen Nennung auflöst. Die Mamma ist der warme, immer vorhandene, in der Fremde, imaginierbare Hintergrund einer labilen Existenz. Im Schwäbischen heißt man Kinder, besonders Jungen, die sehr an der Mutter hängen, in Nöten zu ihr fliehen, bildhaft »Mammasuggele«: solche also, die von der Mutter nicht losgekommen sind, die suggeln, weitersaugen. Ich weiß nicht, ob es diese Bezeichnung schon zu Hölderlins Zeiten gab. Es ist anzunehmen. Denn Buben legten seit eh und je Wert darauf, sich selbständig zu machen, männlich zu sein. Männlich in diesem stumpfen, auftrumpfenden Sinn war er nie. Vielleicht schützte ihn die Abwesenheit von der Mutter, so geschimpft zu werden, vielleicht auch die Gabe, rasch Freunde zu finden; später war es das Anderssein, das Extreme, das ihn bewahrte oder auf andere Weise verletzbar machte.)
Es ist vor Weihnachten 1785. Die Jungen bereiten sich auf das Fest vor. Auch hier haben sie sich vor den Lehrern zu beweisen. »Wann diesmal mein Brief etwas verworrener ist als sonst, so müssen Sie eben denken, mein Kopf sei auch von Weihnachtsgeschäften eingenommen, wie der Ihrige – doch differieren sie ein wenig: meine sind … Plane auf die Rede, die ich am Johannistage bei der Vesper halte, tausend Entwürfe zu Gedichten, die ich in den Cessationen (vier Wochen, wo man bloß für sich schafft) machen will, und machen muß ( NB . auch lateinische), ganze Pakete von Briefen, die ich, obschon das N. Jahr wenig dazu beiträgt, schreiben muß …
Was die Besuche in den Weihnachten betrifft, so bin ich eher frei, Sie hieher einzuladen, weil mich das Geschäft am Johannistage, wie gesagt, nicht leicht abkommen läßt. Die 1. Geschwister werden sich wieder recht freuen; aber, im Vertrauen gesagt, mir ists halb und halb bange, wie sie von mir beschenkt werden sollen. Ich überlasse es Ihnen, liebste Mamma , wanns ja so ein wenig unter uns beim alten bleiben soll, so ziehen Sies mir ab, und schenkens ihnen in meinem Namen. Der 1. Frau Großmamma mein Kompliment, und ich wolle ihr auch ein Weihnachtsgeschenk machen – – – ich wolle dem 1. Gott mit rechter Christtags-Freude danken, daß er Sie mir auch dieses beinahe vollendte Jahr wieder so gesund erhalten habe.«
Er ist beschäftigt. Von der ihn bedrängenden Arbeit spricht er, wie es im Schwäbischen üblich ist, als »Geschäft«. Irgendeiner der Lebensinterpreten hat diesen Brief kindlich genannt. Er ist es nicht. Sein Autor versteht sich darzustellen. Einer, der unter den Lasten des Tages ächzt, sie freilich auch zu ertragen versteht und seine Bedeutung schon auszuspielen weiß: diese vielen Gedichte, die er schreiben muß und will , ein vor den anderen Ausgezeichneter. Es sei nicht vergessen, er ist fünfzehn Jahre alt. Sein Leben kann er ordnen. Die Last der Geschenke für die Geschwister wälzt er auf die Mamma ab, die eben, nach Maßgabe, sein »Konto« belasten soll (in solchen Kleinigkeiten zeigt sich, wie er finanziell gesichert war, sein ganzes
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