Härtling, Peter
Zeitungen: am 26. August waren die Menschenrechte erklärt worden.
Die Freunde nahmen es ihm nicht übel, wenn er sich nicht selten ihren Umtrieben entzog, nicht zuhörte, oder wenn er es vermied, im politischen Gespräch allzu deutlich zu werden. Er war es oft genug. Sie kannten längst seine Furcht, als Täter auftreten zu müssen.
Im späten Herbst beginnt das neue Semester. Griechisch, Hebräisch und Logik stehen nicht mehr auf dem Lehrplan. Die Stipendiaten hören jetzt Physik, Metaphysik und Moral.
Neuffer ist krank, darf zu Hause bleiben; Hölderlin ist mit Magenau allein.
Die Einsamkeit tut ihm für Tage wohl, in »einigen glücklichen Stunden« arbeitet er an einer Hymne auf Kolumbus, den Entdecker, den er ins Mythische entrückt. Das Gedicht geht verloren, das Thema kehrt wieder, dreizehn Jahre später, in Nürtingen und Homburg, in jenem Entwurf auf »Kolomb«, der an der Sprache zerrend, Weite einholen will und, als erinnere sich der früh Gealterte an das flüchtige Wohlgefühl des schreibenden Studenten, sich wünscht, »der Helden einer zu seyn / Und dürfte frei, mit der Stimme eines Schäfers, oder eines Hessen, / Dessen eingeborner Sprach, es bekennen / So wär’ es ein Seeheld.«
Am Nachmittag des 5. November besuchen Herzog Carl Eugen und Franziska von Hohenheim das Stift. Die Herrscher haben die Zeichen verstanden. Sie kommen, das befürchtete Feuer auszutreten. Die Stipendiaten aller Jahrgänge, Repetenten und Professoren werden zusammengerufen. Der Landesherr erklärt nachdrücklich dem Ephorus und den Repetenten ihre Pflichten, sodann verteilt er Prämien und Tadel. Vor ihm werden die Examina abgelegt, Hölderlins Jahrgang wird »über das Dasein Gottes« geprüft.
Der herzogliche Auftritt läßt sich spielen nach einem überlieferten Text. Man hat sich alles unter Zeitdruck zu denken, und alle, außer dem fürstlichen Paar, bewegen sich devot, buckeln und dienern, führen ihre feinen Leistungen vor. Carl Eugen und Franziska werden von Schnurrer samt Anhang im Klosterhof empfangen, sindjedoch derart in Eile, daß sie das Komitee zur Seite wischen und sich ohne Aufenthalt in den Speisesaal begeben, wo alles sich bereits versammelt hat.
Alle erheben sich.
Der Ephorus ist außer Atem, versucht gleichwohl hinterm Rücken des Fürsten zu dirigieren.
Der merkt es, wendet sich den Repetenten zu und fragt noch ohne Süffisanz: Kennen die Herren Repetenten auch ihre Pflichten?
Im Chor tönt es zurück: Ja.
Wissen die Herren auch, fragt er weiter und mit erhobener Stimme (denn nun braucht es patriotisch anrührendes Pathos), welchen wichtigen Einfluß ihr Amt nicht nur auf das Wohl meines Stiftes hat (er betont die Besitzanzeige, macht sich mit diesem einen Wörtchen alles lebende und tote Inventar zu eigen), sondern auch auf das ganze Vaterland?
Der Chor erwidert: Ja.
Wissen die Herren auch, daß sechshunderttausend Seelen – soviel habe ich in meinem Land (und er verfügt nicht nur in Worten über sie) – treue Seelsorge von ihren Händen erwarten?
Der Chor bejaht.
Der Landesherr wendet sich dem Ephorus zu: Nicht wahr, Herr Ephorus, die Repetenten können Ihm auch die Arbeit erleichtern?
Ja, antwortet der Ephorus.
Der Herzog ruft den Repetenten Bardili zu sich: Wenn Er einen schlechten Menschen bessern will, nicht wahr, Er warnt ihn zuerst liebreich? Und wenn dies nichts nützt, schreitet Er zu Strafen?
Und damit die Szene gespannt bleibe, gleich wieder zumEphorus: Nicht wahr, Herr Ephorus, die Repetenten können auch einschreiben?
Ja, antwortet der.
Der Herzog ruft den Stipendiaten Sartorius zu sich: Nun höre Er, mein lieber Herr Sartorius! Wenn Ihm ein Herr Repetent das sagt, so ist’s ebenso viel, als wenn ich’s sage: Der Repetent ist in meinem Namen da – und (jetzt wird seine Rede rasch und drohend) wenn der Repetent nicht auskommen kann, so sagt er es dem Inspektorat – dies meinem Consistorio – und mein Consistorium sagt es mir. Alle vierzehn Tage sollen »die schuldhaft Erfundenen« dem hohen Herrn gemeldet werden.
Auf den Stuben zurück, flüstern sie miteinander, manche sind sogar gegeneinander argwöhnisch.
Neuffer fehlt ihm. So schieben sich die Mauern wieder um ihn zusammen, er möchte ausbrechen. Nichts ist von der hohen Stimmung des Sommers geblieben, die Heiterkeit der gemeinsamen Ausflüge auf Thills Spuren liegt weit zurück. Er schreibt. Beklagt in einem Brief an die Mutter den »immerwährenden Verdruß, die Einschränkung, die ungesunde Luft, die
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