Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
einbiegt, sieht er schon zwei Streifenwagen und Mielkes Twingo auf dem Parkplatz vor der Gepäckannahme stehen. Der leere Ziegelbau auf dem Gelände des stillgelegten Güterbahnhofs liegt genau gegenüber von Haus 22, ebenfalls ein Ziegelbau und mindestens genauso heruntergekommen. Die neu eingesetzte Aluminiumtür gibt der schäbigen Fassade den Rest. Der Bürgersteig ist auf der gesamten Länge des Hauses und dem angrenzenden Holztor daneben mit rot-weißem Plastikband abgesperrt.
Swensen grüßt den uniformierten Beamten, von dem ihm bloß der Vorname Bernd einfällt. Der tippt ohne Worte an seine Schirmmütze und lässt ihn passieren. Der Teppichboden im Flur ist so abgetreten, dass man die dunkelblaue Farbe nur noch am Rand erkennen kann. Der Flur führt direkt in die Stube. Ein mittelgroßer Raum, mit dem üblichen Mobiliar, Schrankwand, Tisch, Sessel, Sofa, Fernseher. Zwei Personen in weißen Plastikoveralls, Latexhandschuhen und Fußschützern sind auf Spurensuche. Einer kriecht mit einer Lupe über den dunkelblauen Teppichboden. Der andere, der neben dem Sofa kniend die Nase schnaubt, ist Peter Hollmann. Swensen erkennt ihn an seiner rundlichen Gestalt und dem buschigen Schnauzer, der unter der stramm geschnürten Kapuze hervorlugt. Im Raum nebenan, der Küche, unterhält sich Stephan Mielke angeregt mit Paul Richter, einem breitschultrigen Streifenpolizisten.
»Hey, Stephan! Ich denke Peter hat die Grippe?«, platzt Swensen mitten in ihr Gespräch.
»Ich hab ihn angerufen. Wollte nur schnell wissen, was zu tun ist. Er ist immerhin unser bester Kriminaltechniker.«
»Ja, ja, wenn man Peter Hollmann um Rat fragt, ist der immer sofort wieder gesund.«
»Meinst du es war falsch ihn anzurufen?« Mielke sieht Swensen mit fragenden Augen an.
»Zweifel ist nur eine Kette von Worten in deinem Geist!«
»Was?«
»Das war ein Scherz, Stephan! Vergiss es einfach. Wo kann ich Handschuhe bekommen?«
Mielke zieht ein Paar aus der Manteltasche und reicht sie Swensen, der diese geräuschvoll über die Hände zieht.
»Was ist mit dem Videobesitzer?«
»Nichts was uns großartig weiterhelfen könnte«, antwortet Swensen knapp, um endlosen Spekulationen vorzubeugen. »Und hier? Habt ihr schon was gefunden?«
Der Kommissar hat nebenbei damit begonnen, sämtliche Schranktüren in der Küche zu öffnen und wieder zu schließen.
»Bis jetzt nichts!«, antwortet Mielke. »In der ganzen Wohnung gibt es offensichtlich keinen Hinweis auf irgendeine Gewalttat. Die Kollegen fragen im Moment in der Nachbarschaft herum, ob jemand was gesehen oder gehört hat.«
»Gut«, bestätigt Swensen. »Wir sollten uns nachher in der Inspektion noch mal kurz zusammensetzen und die Ergebnisse durchgehen.«
Er beginnt Schubladen zu öffnen und wieder zu schließen. In Mielkes Mimik zeichnet sich eine gewisse Gereiztheit ab.
»Was machst du da eigentlich?«
»Ich suche nach einem Zugang zu Eddas Universum! Ermitteln ist so etwas wie das Begreifen gegenseitiger Abhängigkeiten, die zwischen einem Ganzen und seinen Teilen besteht. Ohne Teile kein Ganzes und ohne Ganzes machen auch unsere Mutmaßungen über die Teile keinen Sinn.«
Mielke murmelt etwas, tippt Paul Richter an und beide suchen überstürzt das Weite. Swensen kennt diese Reaktionen von seinen Kollegen.
Es ist zwar fast schon gar nicht mehr wahr, denkt er, aber die Praxis der Mahayana-Schule hat mich offensichtlich doch mehr verändert, als mir manchmal klar ist. Immer bei solchen Reaktionen steht ihm seine Zeit im buddhistischen Zentrum plastisch vor Augen. Wenn ich richtig drüber nachdenke, hat der Meister uns seine Worte förmlich ins Gedächtnis eingeknetet, auf ewig abrufbar.
An die kleine, hutzlige Gestalt, das menschliche Lächeln unter den buschigen Augenbrauen und an das schleifende Geräusch, das seine orangefarbene Leinenrobe auf dem Steinfußboden erzeugte, erinnert er sich, als wäre es gestern gewesen.
»Es ist wichtig zu erkennen, wie Dinge und Ereignisse entstehen«, sagte Lama Rhinto Rinpoche fast immer, wenn er vor der Gruppe mit seiner wöchentlichen Belehrung begann. »Alle Dinge und Ereignisse stehen in Abhängigkeit von Ursache und Wirkung. Und was bedeutet das für uns? Es bedeutet die Erkenntnis, dass kein Ding oder Ereignis von uns so gedacht werden kann, dass es aus sich selbst eine Existenz gewinnt.«
Swensen hatte sich, das weiß er heute genau, jedes der Worte zu Eigen gemacht. Allerdings brauchte es Jahre, bis er sie auch ab und zu in seinen
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