Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
Warnblinkanlage wirft lange rote Streifen auf den nassen Asphalt. Swensen nimmt den Lichtschein schon vor der Kurve wahr, bevor der Bahnübergang überhaupt in seinem Blickfeld auftaucht und steigt behutsam in die Bremsen. Der alte VW-Polo zieht sofort leicht nach rechts.
Mist, ich muss unbedingt die Bremsen richten lassen.
Nach der Besprechung war er in Gedanken an seine Auseinandersetzung mit Anna zuerst in seine Wohnung in der Hinrich-Fehrs-Straße gefahren. Wie schon am Morgen konnte er nicht entspannen und probierte es gar nicht erst mit Meditation. Dieses vertrackte Gefühl, nicht Fisch und nicht Fleisch, war ein Zustand, den er nie lange aushalten konnte. Er musste die Sache mit der gemeinsamen Wohnung noch heute Abend mit ihr klären.
Mit lautem Pfeifen kündigt sich die Regionalbahn nach St. Peter an und rattert quer über die Straße. Die erleuchteten Fenster ziehen einen gelben Lichtstreifen durch die Nacht.
Gähnend leer, denkt Swensen. Wer will auch um diese Zeit mit dem Zug von Husum nach St. Peter. So kutschiert sich die Bahn mit Sicherheit in die roten Zahlen.
Auf der Geraden nach dem Übergang fährt der Triebwagen eine längere Strecke parallel zur Straße, immer auf gleicher Höhe mit Swensens VW. Im Schein der Zugfenster fliegen die flachen Marschwiesen mit den geduckten, windschiefen Weiden und vereinzelten Schafherden vorbei. Vorn sieht Swensen ein grelles Licht auf sich zukommen. Es stammt von der nagelneuen RaMi-Tankstelle, die hier mitten in die Einsamkeit gesetzt wurde. Swensen steuert seinen Wagen an den Zapfsäulen vorbei bis direkt vor die Eingangstür. Obwohl sich einige Häuser im Umfeld befinden, wirkt die ganze Anlage wie ausgestorben. Durch die Fensterfront kann er die Verkäuferin von draußen deutlich erkennen.
Die steht da wie auf dem Präsentierteller, denkt er. Eine riesige Tankstelle, eine Verkäuferin, allein bis spät in die Nacht. Das ist doch nur eine Frage der Zeit, bis wir hier ermitteln dürfen.
Er schnappt sich einen der mickrigen Blumensträuße, die in Plastikeimern vor der Tür stehen, bezahlt und ist schon wieder auf der Straße. Fünf Minuten später sieht er durchs linke Seitenfenster die Witzworter Meierei, die kurz vor dem Ortseingang steht.
Immer wenn er hier vorbeikommt, denkt er unwillkürlich an den sagenhaften ›Eiderstedter Traum‹. Der sahnige Joghurt, der hier produziert wird, ist ein Geheimtipp im Norden.
Kurz vor der angestrahlten Backsteinkirche mit dem winzigen, spitzen Türmchen biegt er nach rechts ab und hält vor Anna Dietes Reetdachhäuschen. Aber trotz seines mehrmaligen Klingelns und Klopfens meldet Anna sich nicht. Verwirrt tritt er die Rückfahrt an.
Gegen 22:18 Uhr lässt er sich daheim auf das Sofa sinken. Sein Körper erscheint ihm wie abgespalten, als bestehe seine Existenz nur in seinem Kopf. Er hat das Gefühl sich mal wieder richtig gehen lassen zu müssen, seine Kontrolle abwerfen zu wollen. Sein Alltag hat etwas Blutarmes angenommen. Diese starren Rituale, morgens Meditieren, abends Meditieren, vegetarisch ernähren, grünen Tee trinken. Wo ist die Lust am Leben geblieben?
Swensen treibt es in die Küche. Er hat eine schwache Erinnerung, dass noch eine Flasche Rotwein da sein muss. Zielsicher öffnet er die rechte Tür des Küchenschranks. Da steht er, ein griechischer Samos. Bye, bye, formlose Leere.
Er dreht vorsichtig den Korkenzieher ein, zieht mit einem sanften Plopp den Korken heraus, riecht an der Unterseite wie an einer alten Erinnerung und schenkt das Glas viertel voll. Dann nippt er kurz daran. Der fast ölige Wein legt ihm eine süße Schwere auf die Zunge. Er geht beschwingt ins Wohnzimmer zurück und hockt sich wieder auf das Sofa.
Sein Blick fällt auf die Uhr, 22:29 Uhr. Er drückt auf die Fernbedienung. Der Bildschirm leuchtet auf. 22:29:57, 22:29:58, 22:29:59. Fanfare, Stimme. Hier ist das Erste mit den Tagesthemen. Ulrich Wickert. Guten Abend meine Damen und Herren. Der erste Beitrag. In Amerika versuchen Wahlhelfer gestanzte Löcher auf Wahlzetteln zu lesen.
Swensen lehnt sich zurück. Teilnahmslos lässt er die Bilderflut an seinem Bewusstsein vorbeiziehen. Erst eine Polizeikette, die einen Wald durchstreift, erregt wieder seine Aufmerksamkeit.
Mehrere Hundertschaften der Polizei durchsuchen die Umgegend des Wohnorts von Beatrix, kommentiert die Sprecherstimme. Die Beamten sind schon seit Tagen im Einsatz.
Ein Kampfjet donnert durchs Bild.
Die Bundeswehr setzt jetzt Tornados mit Wärmekameras
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