Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
ein.
Mit einem Mal sind Weinseligkeit und buddhistische Weisheit wie weggeblasen. Auf dem Sofa sitzt Hauptkommissar Jan Swensen. Er muss über sich lächeln und merkt sofort, dass seine Reaktion nur seine Bestürzung überspielen soll. Ertappt.
Klassischer Fall von Verdrängung, denkt er und spürt einen garstigen Druck im Magen, obwohl er mehrmals tief durchatmet. Das Fahndungsfoto der kleinen Beatrix, das gerade im Beitrag gezeigt wurde, steht ihm weiterhin vor Augen. Eine unheilvolle Ahnung lähmt ihn. Da ist es wieder, sein altes Trauma. Bis eben war er fest überzeugt, er hätte es ein für alle Mal überwunden. Wie durch einen Nebel sieht er zwei Gestalten, die sich einen Weg durch das Gestrüpp einer Parkanlage bahnen. Die erste Gestalt ist Hauptkommissar Karl Begier und die zweite ist er selbst.
Es sah damals aus wie einer der normalen Einsätze, die er seit acht Dienstjahren bei der Mordkommission Hamburg West abgerissen hatte. Alle verfügbaren Schutz- und Kriminalpolizisten vor Ort. Zwei Leichen im Sternschanzenpark. Begier bog das Buschwerk zur Seite und Swensen trat neben ihn. Da lagen sie, zwei tote Knaben, zwischen neun und zwölf Jahren. Der Anblick traf ihn unerwartet, wie eine Keule. Der eine Leichnam lag mit nacktem Oberkörper, an Händen und Füßen gefesselt, auf dem Rücken. Am Hals klaffte eine breite Wunde. Eine verkrustete Blutspur führte über die linke Halsseite bis zum blutig durchtränkten Erdreich. Der Reißverschluss der Jeanshose war heruntergezogen, der Hosenbund geöffnet. Das jüngere Kind lag zirka fünf Meter entfernt, ebenfalls auf dem Rücken. Die blutverschmierte Windjacke war offen, das T-Shirt darunter nach oben geschoben. Der Brust- und Bauchbereich war mit brutalen Stichwunden übersät. »Das ist ja wie auf dem Schlachthof«, meinte Begier. Swensen wurde speiübel. Er stützte sich an einen Baum und kotzte sich die Seele aus dem Leib.
In weiter Ferne dringt ein schwaches Surren an sein Ohr. Er taucht durch den Nebel. Das Geräusch wird schrill. Sein Telefon klingelt. Swensen drückt mit der Fernbedienung den Ton des Fernsehers leiser und nimmt den Hörer ab.
»Swensen!«
»Hallo Jan!« Swensen erkennt die krächzende Schnupfenstimme von Peter Hollmann am anderen Ende der Leitung.
»Ich hoffe du bist nicht sauer, dass ich so spät anrufe, aber ich hab den Namen des Fotografen rausgekriegt. Du erinnerst dich noch an unser Gespräch von vorhin. Also, der Mann heißt Wiggenheim, Sylvester von Wiggenheim, und lebt wahrscheinlich in Hamburg, jedenfalls nach der Biographie in meinem Buch.«
Swensen sieht auf dem Bildschirm, dass in der Zwischenzeit irgendein Krimi angefangen hat.
»Hallo, Jan! Bis du noch da?«
»Klar, Peter! Prima! Besten Dank! Schätze, die Adresse kriegen wir morgen schon raus.«
»Also, dann bis morgen.«
»Bis morgen!«
Swensen legt auf und das Telefon klingelt gleich wieder.
»Ist noch was, Peter?«
»Hallo Jan, ich bin’s, Anna!«
»Du, Anna? Oh, – hast du den Blumenstrauß gefunden?«
»Welchen Blumenstrauß?«
»Den ich dir an die Tür geklemmt habe.«
»An die Tür? Du warst bei mir zuhause?«
»Ja!«
»Wieso das denn? Ich bin in Rendsburg und halte mein Seminar über ›narzisstische Persönlichkeitsstörungen‹.«
Swensen schlägt sich mit der Hand an die Stirn.
»Ach ja, Rendsburg! Hab ich mal wieder total verschwitzt. Dann konntest du ja nicht da sein.«
»Nein, konnte ich nicht!«
»Dann rufst du jetzt einfach nur so an?«
»Das könnte man so sagen. Ich hab allerdings auch ein wenig an unseren ungeklärten Streit gedacht.«
»Ja, stimmt! War ziemlich blöde, oder?«
»Ja!«
»Tut mir leid! Wir sollten morgen unbedingt mal drüber reden.«
»Ich bin erst am Wochenende zurück.«
»Gut dann sehen wir uns dann.«
»Wir werden sehen. Gute Nacht, Jan!«
»Gute Nacht Anna!«
Swensen legt auf und fühlt sich mit einem Mal zutiefst allein. Er wird wohl immer ein Eigenbrötler mit Angst vor Nähe bleiben. In der Zwischenzeit ist der ›Tatort‹ auf dem Bildschirm voll im Gange. Gerade verfolgt eine Person eine andere. Swensen erkennt Kommissar Schimanski, der über die Feuertreppe eines Gasometers rennt, und macht den Ton wieder lauter. Schüsse peitschen. Der mutmaßliche Ganove wird getroffen und stürzt über das Geländer in die Tiefe.
Schwachsinn, denkt er und drückt den Aus-Knopf.
Er muss wieder an den Kindermord im Sternschanzenpark denken. Das Bild hatte sich damals so in sein Gedächtnis eingebrannt,
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