Hafen der Träume: Roman (German Edition)
Orange.
»Er sabbert nicht viel. He, Foolish!«
Sofort sprangen beide Hunde auf und sprinteten durch die Halle. Seth wand sich zwischen ihnen hindurch und stellte die Tüte auf den provisorischen Tisch, der aus einer Sperrholzplatte und zwei Sägeböcken bestand.
»Ich weiß nicht, warum immer ich losgeschickt werde, um das Mittagessen zu kaufen«, beschwerte er sich.
»Weil wir größer sind als du«, erklärte Cam und griff in die Tüte. »Hast du mir die doppelt belegten Baguette-Brötchen besorgt?«
»Ja, klar.«
»Wo ist mein Wechselgeld?«
Seth nahm eine Literflasche Cola aus der Tüte, drehte den Deckel auf und trank direkt aus der Flasche. Dann grinste er. »Welches Wechselgeld?«
»Pass mal auf, du Hühnerdieb. Ich kriege mindestens zwei Dollar zurück.«
»Keine Ahnung, wovon du redest. Du musst wieder meinen Lieferzuschlag vergessen haben.«
Cam streckte den Arm nach Seth aus, um ihn zu packen,
doch der Junge tänzelte geschickt zur Seite, mit hämischem Lachen.
»Geschwisterliebe«, erklärte Phillip. »Deswegen gebe ich dem Jungen das Geld immer passend. Bei ihm sieht man keinen Penny wieder. Etwas zu essen?«
»Nein, ich …« Sybill konnte den Blick nicht von Seth abwenden. Seth sprach jetzt mit Ethan und gestikulierte breit ausholend, während der Hund verspielt an seinem anderen Arm hochsprang. »Ich habe schon gegessen. Aber machen Sie nur.«
»Etwas zu trinken vielleicht? Hast du mein Wasser gekauft, Junge?«
»Ja, dein Nobelwasser. Rausgeschmissenes Geld. Mann, war das ein Gedränge bei Crawford’s.«
Crawford’s. Sybill überlief ein Gefühl, das sie nicht einordnen konnte. Womöglich hatte sie sich zur gleichen Zeit wie Seth in dem Laden aufgehalten. Vielleicht waren sie sich auch auf der Straße begegnet, ohne dass sie ihn erkannt hatte.
Seth blickte von Phillip zu Sybill und studierte sie mit schwachem Interesse. »Wollen Sie auch ein Boot kaufen?«
»Nein.« Er wusste nicht, wer sie war, dachte Sybill. Natürlich nicht. Damals, bei ihrer einzigen Begegnung, hatte er beinahe noch in den Windeln gelegen. Sein Blick verriet nichts, kein verblüfftes Erkennen von Familienähnlichkeit. Ihr ging es genauso. Aber sie wusste, wer er war. »Ich sehe mich nur um.«
»Cool.« Er kehrte zum Tisch zurück und holte sein Sandwich aus der Provianttüte.
»Ähem …« Red mit ihm, befahl sich Sybill. Sag etwas. Egal was. »Phillip hat mir gerade deine Zeichnungen gezeigt. Sie sind wunderbar.«
»Ja, die sind ganz gut.« Seth zuckte mit den Schultern, aber Sybill meinte, auf seinen Wangen die Andeutung eines freudigen Errötens zu sehen. »Ich könnte
noch bessere Zeichnungen machen, aber sie lassen mir nie Zeit.«
Beiläufig – zumindest hoffte sie, es würde beiläufig wirken – kam Sybill zu ihm herüber. Jetzt konnte sie ihn genau sehen. Er hatte blaue Augen, aber das Blau war tiefer und kräftiger als bei ihr oder ihrer Schwester. Das hellblonde Haar des kleinen Jungen auf dem Foto, das sie bei sich trug, war nachgedunkelt. Mit vier Jahren hatte sein Haar ausgesehen wie Flachs. Jetzt war es eher goldblond und sehr glatt.
Der Mund, dachte Sybill. Gab es eine gewisse Ähnlichkeit beim Kinn und in der Gegend um den Mund? »Möchtest du gern richtig zeichnen?« Sie musste mit ihm im Gespräch bleiben. »Ich meine, wie ein Künstler?«
»Vielleicht, aber das wäre nur zum Spaß.« Seth biss ein riesiges Stück von seinem Sandwich ab und redete mit vollem Mund. »Wir sind Bootsbauer.«
Seine Hände waren alles andere als sauber, stellte Sybill fest, und mit seinem Gesicht stand es kaum besser. Sie vermutete, auf Feinheiten wie Händewaschen vor den Mahlzeiten wurde in diesem Männerhaushalt wenig Wert gelegt. »Dann könntest du Bootsdesigner werden.«
»Seth, das ist Dr. Sybill Griffin.« Phillip reichte Sybill einen Plastikbecher mit Mineralwasser und Eis. »Sie schreibt Bücher.«
»Geschichten?«
»Nicht direkt«, erklärte sie. »Ich stelle Beobachtungen an und schreibe darüber. Im Moment verbringe ich einige Zeit in dieser Gegend, um für ein Buch Beobachtungen zu sammeln.«
Seth wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. Mit derselben Hand, die Foolish vorhin begeistert geleckt hatte, stellte Sybill fest und zuckte innerlich zusammen.
»Schreiben Sie in dem Buch auch über Boote?« fragte er.
»Nein, ich schreibe über Menschen, die in kleinen Städten leben. Und in kleinen Küstenorten wie St. Christopher. Wie gefällt es dir … ich meine, das Leben
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