Hafen der Träume: Roman (German Edition)
mit ihr«, schloss Seth.
»Herrgott. Das schnappt er bei dir auf«, beschuldigte Phillip seinen Bruder Cam.
»Er war schon immer so.« Cam legte den Arm um Seths Nacken. »Stimmt’s, Satansbraten?«
Seth wurde nicht mehr wie früher von Panik befallen,
wenn man ihn berührte oder festhielt. Stattdessen wand er sich grinsend aus Cams Umarmung. »Ich denke wenigstens nicht die ganze Zeit an Mädchen, sondern habe noch andere Dinge im Kopf. Echt, ihr Typen langweilt mich.«
»Wir dich langweilen?« Phillip setzte sich Seths Baseballmütze auf, um die Hände freizubekommen, und rieb sich die Handflächen. »Weißt du was, wir schmeißen diesen Winzling einfach ins Wasser.«
»Kannst du das auf später verschieben?« fragte Ethan, als Seth wild und begeistert um Hilfe schrie. »Oder muss ich dieses verdammte Boot allein fertigbauen?«
»Na schön, dann eben später.« Phillip beugte sich vor, bis er mit Seth auf Nasenhöhe war. »Und du hast keine Ahnung, wann, wo und wie wir es machen.«
»Mann, ich zittere jetzt schon.«
Heute habe ich Seth gesehen.
Sybill saß vor dem Laptop und nagte an ihrer Unterlippe. Dann löschte sie den ersten Satz, den sie eingetippt hatte.
Ich habe heute Nachmittag Kontakt mit dem Subjekt aufgenommen.
Besser, entschied sie. Objektiver. Um der Situation angemessen zu begegnen, betrachtete sie Seth am besten als Untersuchungsgegenstand.
Es gab keine Reaktion, die auf ein Wiedererkennen hätte schließen lassen. Auch ich hätte Seth nicht erkannt, was natürlich zu erwarten war. Das Subjekt scheint gesund zu sein. Ein attraktiver, schlanker, aber robust gebauter Junge. Gloria war immer schlank. Vermutlich hat er ihren Körperbau geerbt. Er ist blond wie sie – zumindest war sie es bei unserer letzten Begegnung.
Er schien sich in meiner Gegenwart wohl zu fühlen. Manche
Kinder reagieren ängstlich und scheu auf fremde Personen. Das ist bei ihm anscheinend nicht der Fall.
Als ich eintraf, befand sich Seth nicht auf der Werft, aber er kam kurze Zeit später. Man hatte ihn losgeschickt, um für das Mittagessen einzukaufen. Dem anschließenden Wortwechsel und Seths Protesten konnte ich entnehmen, dass Besorgungen dieser Art oft von ihm erwartet werden. Zwei Schlussfolgerungen sind möglich. Entweder nutzen die Quinns die Anwesenheit des Jungen aus und lassen ihn für sich arbeiten, oder diese Aufträge dienen dazu, ihm Verantwortungsgefühl beizubringen.
Die Wahrheit liegt wahrscheinlich in der Mitte.
Seth hat einen Hund. Das ist bei einem Kind, das auf dem Land oder am Stadtrand lebt, ja auch zu erwarten. Man könnte sogar sagen, ein Hund gehört hier zum traditionellen Bild einer intakten Familie.
Seth besitzt auch eine zeichnerische Begabung. Das hat mich ziemlich verblüfft. Ich zeichne selbst und meine Mutter auch. Gloria allerdings hat sich nie dafür interessiert oder Geschick gezeigt. Das gemeinsame Interesse am Zeichnen könnte den Weg zu einer Beziehung mit dem Jungen ebnen. Ich werde einige Zeit mit ihm allein verbringen müssen, um über das weitere Vorgehen zu entscheiden.
Das Subjekt fühlt sich meines Erachtens wohl bei den Quinns. Der Junge scheint zufrieden und in Sicherheit. Eine gewisse Wildheit und Ungebührlichkeit in seinem Betragen lässt sich allerdings nicht leugnen. Während der Stunde, die ich dort war, habe ich ihn wiederholt fluchen hören. Ein oder zwei Mal wurde er halbherzig zur Ordnung gerufen, ansonsten blieb sein Sprachgebrauch unbeanstandet.
Man erwartete nicht von ihm, dass er sich vor dem Essen die Hände wusch, und keiner der Quinns tadelte ihn, als er mit vollem Mund sprach oder den Hunden von seiner Mahlzeit abgab. Seine Manieren lassen zu wünschen übrig, ohne jedoch abstoßend zu wirken.
Seth sprach davon, das Leben hier gegenüber der Stadt
vorzuziehen. Er äußerte sich sogar höchst verächtlich über die Stadt. Ich bin heute Abend mit Phillip Quinn zum Essen verabredet und werde bei der Gelegenheit darauf drängen, dass er mir detailliert berichtet, wie Seth zu den Quinns kam.
Dann kann ich seinen Bericht mit Glorias Angaben vergleichen und die Situation besser einschätzen.
Als Nächstes muss ich erreichen, zu den Quinns nach Hause eingeladen zu werden. Es interessiert mich sehr zu sehen, wo der Junge lebt. Außerdem lerne ich dann die Frauen kennen, die zur Pflegefamilie gehören.
Ich werde mich erst mit dem Vormundschaftsgericht in Verbindung setzen und meine Identität preisgeben, wenn diese persönliche Studie
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