Hahn, Nikola
fragte Victoria.
Die
Einundzwanzigjährige nickte. Sie trug ein enggeschnürtes rotes
Schneiderkostüm, einen bestickten Tuchmantel und einen Hut aus grünem Velours,
der gut zu ihrem schwarzen Haar paßte.
»Sie
sehen wunderschön aus«, sagte Louise.
»Ach
was«, entgegnete Vicki verlegen.
Victoria
lachte. »Die liebe Louise will nur kundtun, daß sie es bedauert, mich beim
Ankleiden nicht mehr quälen zu dürfen.«
»Wenn
Sie bitte erlauben: Ich finde diese neumodischen Kleidersäcke nicht besonders
hübsch.«
»Aber
es zwickt nichts, und man fällt beim Fahrradfahren nicht so schnell in
Ohnmacht«, sagte Flora.
»Lieber
Himmel!« rief Louise. »Diese schrecklichen Geräte sind doch nichts für sittsame
junge Mädchen!«
»Mama
hat versprochen, daß ich eins bekomme, wenn ich fleißig Französisch lerne.«
Louise wandte
sich kopfschüttelnd ab und legte Victorias Garderobe zusammen.
»Bitte
kümmere dich darum, daß David und Vater zur gewohnten Zeit den
Nachmittagskaffee erhalten«, sagte Victoria.
»Ja,
gnädige Frau.«
»Laß
dich von Großvater nicht ärgern«, flüsterte Vicki ihr zu, und über das Gesicht
der alten Zofe huschte plötzlich ein Lächeln.
Als
Victoria mit ihren Töchtern und einem Dienstmädchen in den vor dem Haus
stehenden Landauer stieg, war es kurz vor ein Uhr. Ein kalter Wind blähte ihre
Kleider, und es nieselte. Victoria seufzte. Statt in einer zugigen Kutsche
kilometerweit durch die Gegend zu fahren, würde sie lieber am Kamin in ihrer
Bibliothek sitzen und die Bücher anschauen, die gestern geliefert worden waren.
Flora kümmerte das schlechte Wetter nicht. Sie plapperte unaufhörlich, während
ihre Schwester Vicki gedankenverloren in den Regen hinaussah.
»Tessa!
Was meinst du, wie mein Hündchen heißen soll?«
»Struppi«,
schlug das Dienstmädchen vor.
»So ein
dummer Name!«
»Was
fragst du dann überhaupt?«
»Es ist
langweilig hier drin. Wir hätten mit der Eisenbahn fahren sollen.«
»Dich
Zappelphilipp hätte der Schaffner spätestens am Bockenheimer Bahnhof an die
Luft gesetzt«, neckte Vicki.
Flora
streckte ihr die Zunge heraus.
»Wenn
du nicht sofort Ruhe gibst, kehren wir um!« sagte Victoria. Flora lag eine
Erwiderung auf der Zunge, aber der Gesichtsausdruck ihrer Mutter ließ keinen
Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Drohung. Sie verschränkte die Arme vor der
Brust und schmollte.
Der
Wagen bog in die Rödelheimer Landstraße ein und fuhr an Feldern und Wiesen
vorbei, über denen grauer Dunst lag. Ab und zu sahen sie einen Reiter oder ein
Fuhrwerk, ansonsten war die Straße leer. Das gleichmäßige Rumpeln der Räder
machte müde. Victoria schloß die Augen. Sie hatte gehofft, Richard heute
morgen sprechen zu können, aber als sie aufwachte, war er schon fort. Auch ihr
Vater hatte es vorgezogen, ihr aus dem Weg zu gehen und sich Frühstück und
Mittagessen aufs Zimmer bringen lassen. Und er tat gut daran. Er hatte kein
Recht gehabt, seinen Schwiegersohn wie einen dummen Jungen zu disziplinieren,
nur weil er nicht rechtzeitig zu Floras Geburtstagsessen heimgekommen war.
Andererseits hatte Rudolf Könitz erkennbar einige Gläser Rießler zuviel
genossen, und es wäre für Richard ein Leichtes gewesen, die Situation durch
eine humorvolle Bemerkung zu entschärfen. Statt dessen hatte er Öl ins Feuer
gegossen.
»Wenn
ich dem nächsten Dieb den Weg zu deiner wohlgehüteten Geldschatulle weise,
statt ihn zu verhaften, werde ich meinen Dienst sicherlich zeitiger beenden
können, verehrtester Schwiegervater.«
»Das
würde ich mir überlegen, mein Lieber«, entgegnete Rudolf Könitz lächelnd.
»Denn ohne meine wohlgehütete Schatulle müßtest du mit deiner Familie ziemlich
bald ins Ostend ziehen.«
Die
Gespräche am Tisch verstummten. Richard stand auf und ging.
»Bleib
sitzen!« sagte Victoria, als Flora ihrem Vater folgen wollte. »Tessa! Bitte
tragen Sie das Dessert auf.«
»Jawohl,
gnädige Frau.«
Victoria
tupfte sich mit der Serviette den Mund ab. »Ihr entschuldigt mich für einen
Moment?«
Sie
fand Richard in seinem Schlafzimmer. Er sah auf die Straße und den nächtlichen
Main hinaus. Victoria ging zu ihm. »Vater ist betrunken. Er weiß nicht, was er
sagt.«
»Er
weiß es nur zu gut.«
»Flora
wartet seit Stunden auf dich.«
Richard
drehte sich zu ihr um. Sein Gesicht war angespannt und blaß. »Ich lasse mich
vor Gästen nicht derart beleidigen!«
Sie
berührte seinen Arm. »Es ist doch nur die Familie da.«
»Du
meinst, das macht
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