Hahnemanns Frau
eine Bahnreise war nicht zu denken, denn Züge fuhren in diesen Tagen nicht.
Mélanie sah ihnen mit Tränen in den Augen nach. »Bis bald, ihr Lieben«, flüsterte sie.
Nun waren Mélanie nur noch Anne-Marie, das Mädchen, und Joachim, der Hausdiener, geblieben. Joachim war seit dreißig Jahren bei ihr in Diensten und ein alter Mann. Er kannte Samuel und Rose noch, er hatte ein paar der guten Jahre miterlebt und sehr viele schlechte, in denen er zu ihr gehalten hatte, auch wenn sie kaum genug Geld hatten, um Essen und Kohle für den Winter zu kaufen. Nun würde sie ihn entlassen müssen, und das zerriß ihr das Herz. Um Anne-Marie allerdings machte sie sich keine Sorgen, sie war jung, kräftig und intelligent und würde bald eine neue Stellung finden.
Abschied von Paris
Joachim holte die Kisten und Koffer aus dem Keller, und Mélanie begann mit Anne-Maries Hilfe, die Krankenjournale einzupacken. Das Mädchen nahm sie der Reihe nach aus dem Regal, staubte sie ab und gab sie an ihre Herrin weiter.
Die Journale waren nach Jahren geordnet – 54 große Lederbände, die Ecken zum Teil durchgestoßen, bei manchen zeigten sich Schrammen im Einband, oder die vergilbten Blätter waren eingerissen.
Der erste Band stammte aus dem Jahre 1801. Mélanie schlug ihn lächelnd auf. Als Samuel sich über diese Blätter gebeugt hatte, um zu notieren, was seine Patienten quälte, war sie noch nicht einmal ganz ein Jahr alt gewesen, und doch war schon das Schicksalsband für sie gewoben. Ein feiner, silberner Faden, leuchtend wie das von Tau benetzte Gewebe einer Spinne im Mondlicht, das von hier nach da gespannt wurde, um ihre Herzen zu verbinden.
Sie stellte den Band in die Kiste und nahm aus Anne-Maries Hand den nächsten entgegen. So arbeiteten die Frauen still vor sich hin. Manchmal schlug Mélanie eines der Journale auf, um ein wenig darin zu lesen. Dann bewegte sie murmelnd die Lippen, und ihr Finger fuhr zärtlich über die Zeilen, als könnte sie so Kontakt zu Samuel aufnehmen. Ihn berühren und liebkosen, indem sie über die Buchstaben strich, die seine Hand geschrieben hatte.
Je weiter die Aufzeichnungen in den Jahren fortschritten, desto öfter entdeckte sie Berichte über Patienten, die sie selbst kannte. Patienten, die Samuel bereits in Köthen aufgesucht hatten und später auch nach Paris kamen. Schließlich hielt sie den ersten der Bände im Schoß, an denen sie selbst mitgewirkt hatte. Ihre steile, akkurate Schrift, ihre erste Annäherung an die Homöopathie.
Mélanie legte eine Hand auf das Buch und schloß die Augen. Ein Gefühl von Wärme stieg in ihr auf, ein Gefühl des Glücks und der Trauer. Ihre schönsten Jahre waren die wenigen an Samuels Seite gewesen. In diesem Band und in den siebzehn folgenden aus ihrer gemeinsamen Pariser Zeit waren sie festgehalten. In all den Minuten, Stunden und Tagen, an denen sie dies geschrieben hatte, gab es auch Blicke zwischen ihnen, Berührungen, Gedanken, die sie verbanden. Gemeinsame Erlebnisse, von denen sie beseelt wurden. Nächte, die sie am Morgen noch zwischen ihren Schenkeln spürte. Vorbereitungen zu Festen. Paganini oder Sébastien – hier waren nicht nur die Krankheiten ihrer Patienten festgehalten, sondern, wie hinter einem Schleier verborgen, auch ihr eigenes Leben.
»Aber Madame, Sie weinen ja …« Anne-Marie legte eine Hand auf Mélanies Arm. »Wenn es zu anstrengend für Sie ist, könnten wir auch morgen weitermachen.«
Mélanie sah das Mädchen an. »Nein, die Zeit drängt! Eine Tasse Kaffee würde mir allerdings jetzt guttun. Haben wir noch Kaffee im Haus?«
»Für ein oder zwei Tassen reicht es gerade noch.«
»Dann mach drei Tassen draus und schenk dir und Joachim auch eine ein. Und frag Joachim, ob er Monsieur Colbert erreichen konnte.«
»Ja, Madame – danke, Madame!«
Als Mélanie allein war, ging sie zu dem großen Spiegel, der über dem Kamin hing, und starrte hinein. Sie war alt geworden. Siebzig Lebensjahre, nicht wenige voller Entbehrungen und Kummer, hatten Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Ihr Haar war grau, ihre Haut dünn geworden, und doch galt sie immer noch als elegante Erscheinung. Es war ihre aufrechte Haltung, ihr hoch erhobenes Kinn – niemand hat es geschafft, daß sie sich unter der Last, die man ihr aufbürdete, klein machte und duckte.
Sie hob ihre Hand und strich versonnen über die Uhr, die auf dem Kaminsims stand, die einzige, die ihr aus Samuels Sammlung geblieben war. Alle anderen hatte sie in Notzeiten
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