Hahnemanns Frau
um mit Vernunft rechnen zu können.«
»Napoleon hat kapituliert?« Mélanie sah den Mann fassungslos an.
»Das wissen Sie noch gar nicht?« René Hugo nickte heftig. »Ja, gestern hat er kapituliert, und heute ist er in preußische Gefangenschaft gegangen!«
Wieder zerbarst eine Scheibe, und ein Stein flog herein. Diesmal landete er mit einem dumpfen Schlag auf einer Ottomane, die vor der Wand stand.
»Ich werde versuchen, die Leute zu beruhigen!« Entschlossen schob René Hugo seine Tochter zu Mélanie, öffnete das Fenster und starrte Marcel, seinen Nachbarn, wütend an. »Schluß damit! Verdammt, ihr Bestien, hört auf!«
Einen kurzen Moment war es still, doch dann schrie einer zurück: »Die Deutschen sind die Bestien!« Und die Menge brüllte wieder los: »Bestien! Und wir werden vor ihnen nicht zu Kreuze kriechen!«
»Ach – und was habt ihr jetzt vor? Wollt ihr etwa die Frau erschlagen, die so manchem von euch das Leben gerettet hat?«
Das Gemurre wurde leiser, und René Hugo winkte seine Tochter zu sich. Er nahm sie auf den Arm und zeigte sie den Leuten. »Du, Marcel, und ihr, Anton, Pierre und Henry, habt doch gesehen, wie meine Kleine noch vor einer Woche aussah – ihre Augen waren so verklebt, daß sie sie nicht mehr öffnen konnte. Und jetzt? Schaut sie euch an!« Er küßte Monique und zwickte ihr zärtlich in die Wange. »Wie zwei wunderbare Sterne würden sie leuchten, wenn mein Mädchen nicht solche Angst vor euch Hornochsen hätte! Und da werft ihr Steine durch Madame Hahnemanns Fenster! Und redet über die Deutschen, daß sie Bestien sind! Kein bißchen besser seid ihr!«
»Die Preußen sollen abhauen! Wir akzeptieren die Kapitulation nicht, und wir dulden keine Besatzer! Wir werden den Krieg fortführen!«
»Vive la France!« brüllten sie.
»Dann wendet euch gefälligst an die Kaiser, Könige und ihre Feldherren!« Er setzte Monique auf dem Boden ab und schob sie zu Mélanie zurück. »So, und jetzt geht nach Hause, und laßt Madame Hahnemann in Ruhe!« Damit schlug er das Fenster zu.
Tatsächlich zog die Meute ab. René Hugo sah ihnen eine Weile nach, dann drehte er sich zu Mélanie um. »Für heute sind sie beruhigt. Am besten gehen Sie zu Bett und löschen alle Lichter. Aber morgen, in aller Frühe, sollten Sie nach Paris zurückfahren … und, wenn möglich, für eine Weile das Land verlassen.«
Er nahm Monique wieder auf den Arm.
»Danke, Monsieur Hugo. Ich werde Ihnen das nicht vergessen.«
»Wir stehen in Ihrer Schuld.« Er legte kurz eine Hand auf Mélanies Hand, dann ging er zur Tür. Auf einer Konsole stand eine Schale. Dort legte er wortlos das ganze Geld hinein, das er bei sich hatte, dann trat er hinaus und verschwand mit schnellen Schritten in der Dunkelheit.
Als Mélanie aus der Droschke stieg, wurde die Tür ihres Hauses aufgerissen, und Sophie stürmte auf sie zu. Sie war nicht besonders groß, hatte eine schlanke Taille und war auch ansonsten wohlproportioniert. Ihr Haar war brünett, ihr Gesicht hübsch, wenn auch nicht von ebenmäßiger Schönheit – die ganze Erscheinung von vornehmer Eleganz. Mélanie war stolz auf sie und liebte sie über alles.
»Ach, Mama, daß Sie endlich da sind!« Sophie fiel Mélanie um den Hals. »Wir hätten Sie nicht alleine nach Versailles fahren lassen dürfen! Ich hatte solche Angst um Sie! Am liebsten hätte ich Karl zu Ihnen geschickt, um Sie zu holen, doch dann wäre ich vor Angst um euch beide gestorben!«
»Es ist ja gut – mir ist nichts geschehen.« Mélanie küßte Sophie und lächelte. Obwohl sie bereits 32 Jahre alt war, erschien Sophie ihr manchmal noch wie das kleine, ungestüme Mädchen, das auf Samuels Knien geritten war und ihn geküßt und geherzt hatte. Doch nun lag ein Schatten von Sorge und Trauer auf dem Gesicht der jungen Frau, und ihre Augen waren rot vom Weinen.
Mélanie sah sie forschend an. »Was ist passiert, ma chère?«
»Wir haben gehofft, der Krieg sei nun endlich überstanden, aber schon ist Paris wieder ein Hexenkessel. Es heißt, Gambetta wird Frankreich zur Republik erklären, und er will den Kampf gegen Deutschland fortsetzen. Und dann – Karl hat etwas Entsetzliches erlebt! Aber er soll es Ihnen selbst erzählen.«
Drinnen nahm Anne-Marie, das Hausmädchen, Mélanie den Mantel ab und hängte ihn zum Trocknen neben den Ofen in der Küche. Dann bereitete sie Minztee und servierte ihn im Salon.
Karl war bleich. Sein blondes Haar hing ihm wirr in die hohe, breite Stirn, seine
Weitere Kostenlose Bücher