Hahnemanns Frau
verkaufen müssen. Sie würde sie einpacken lassen und mitnehmen, um auf ihr die letzten Jahre, Tage, Stunden zu zählen, die sie noch von Samuel trennten.
Im Tod wieder vereint sein mit ihm! Es gibt so viele Tode im Leben, da ist der letzte nicht der schlechteste!
Sie ging zum Bücherschrank, zog den Band mit Samuels Manuskripten zur sechsten Auflage des Organon heraus, setzte sich damit ans Fenster und blätterte darin. Tränen verschleierten ihren Blick. Weil sie dieses Manuskript gegen alle Widrigkeiten bewahrt hatte, für eine Zeit, in der Samuels Saat auf fruchtbaren Boden fallen konnte, hatte man sie angefeindet und beschimpft. Man hatte sie stur, selbstsüchtig, verantwortungslos genannt. Man hatte sie ausgeschlossen und sogar verspottet, hatte den ganzen Haß auf ihren Schultern abgeladen, mit dem man zu Samuels Lebzeiten auf ihn losgegangen war. Vor allem hatte man sie vollkommen allein gelassen mit all den Ungeheuerlichkeiten, die Samuel noch nach seinem Tod angetan worden waren. Dr. Lutze und Samuels Enkel Leopold hatten eigene Überarbeitungen als sechste Auflage des Organon herausgebracht. Lutze hatte dabei gar die Behauptung aufgestellt, Samuel hätte vorgehabt, die Gabe von zwei Arzneien zur gleichen Zeit anzuraten. Er hatte sich erdreistet, Samuels Namen für sich und sein Werk zu benutzen und Geld daraus zu schlagen. Schließlich hatte man sie sogar der Lüge bezichtigt! Sie hätte ja gar kein Manuskript, es gäbe gar keine neue Überarbeitung.
»Ach Samuel!« Mélanie seufzte auf und wischte sich die Tränen ab. »Soviel Leid hat mir der Auftrag gebracht, den du mir am Sterbebett gabst – hättest du es geahnt, vielleicht hattest du diese Schrift hier in die Seine geworfen, um mich vor ihr zu beschützen. Und doch bin ich froh, daß du es nicht getan hast. Ich habe das Manuskript so lange auf meinen schmalen Schultern mit durch mein Leben geschleppt, und jetzt werde ich es auch noch vor dem lodernden Feuer eines neuen Krieges retten. Die Menschen tun einander unendliches Leid an. Immer war es so, und es wird wohl nie anders werden. Früher habe ich mich danach gesehnt, daß du wieder mit mir leben könntest. Jetzt sehne ich mich mehr und mehr danach, mit dir in der Stille des Todes vereint zu sein. Ich bin alt geworden. Und doch bin ich noch nicht einmal so alt, wie du warst, als ich dich kennen- und liebenlernte.«
Mélanie zuckte zusammen, denn plötzlich stand Anne-Marie vor ihr. »Madame, der Kaffee.«
»Danke, stell ihn auf den Tisch.«
»Monsieur Colbert läßt ausrichten, er kommt noch heute Abend.«
»Ja.« Mélanie nickte. »Das ist gut – très bien.«
Anne-Marie hatte Sébastien Überzieher, Zylinder und Stock abgenommen und ihn in den Salon gebracht. Als er den Raum betrat, stand Mélanie auf und kam ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen.
»Da bist du ja!« Sie küßte ihn auf die Wange, dann sah sie ihn forschend an. Noch immer war er ein gutaussehender Mann. Groß und schlank, mit sprechenden blauen Augen, die den Blick der Frauen fesseln konnten. Doch sein dunkles Haar war grau geworden, und seine Hände zitterten manchmal ein wenig, wenn er die Schreibfeder hielt oder rauchen wollte und sich Feuer gab.
»Ich wäre ohnehin gekommen, auch wenn du nicht nach mir geschickt hättest«, begann er ohne Einleitung, setzte sich auf das Sofa, das vor dem Kamin stand, und zog sie neben sich. »Ich erfuhr von den beiden Deutschen, die sich erhängt haben, nachdem sie ihr Kind ermordeten – es sind doch Freunde von Sophie?«
»Aber es war kein Selbstmord – es war ein feiger, verabscheuungswürdiger Meuchelmord!« Mélanie erzählte ihm, was Karl erlebt hatte und daß sie nun nach Westfalen unterwegs waren, um dort für eine Weile auf dem Gut von Karls Familie zu leben.
»Das ist ja entsetzlich!« Sébastien starrte Mélanie an. Dann seufzte er. »Es gab auch in unserer Straße Übergriffe. Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen, um dich nicht zu ängstigen: Man hat eine Frau aus dem Fester geworfen, aus dem dritten Stock. Eine Nachbarin hat es beobachtet. Die Frau war Französin, jedoch mit einem Deutschen verheiratet. Der Krieg wird weitergehen, der Haß gegen die Deutschen ist abgrundtief. Ich mache mir Sorgen um dich! Du mit deinem deutschen Namen! Warum bist du nicht mit Sophie und Karl nach Deutschland gefahren?« Er nahm sie an den Schultern, drehte sie zu sich und sah ihr eindringlich in die Augen. »Du solltest das Land verlassen. Wenigstens für eine Zeit, bis
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