Halbgeist: Roman
wissen, eine Mörderin, wenn nicht bereits in physischer Form, dann zumindest auf der psychologischen Ebene, hat die volle, unverwässerte Ladung abgekriegt. Ohne einen regelmäßigen Kontakt zu anderen, der selbst einem ausgemachten Misanthropen einen Kontext zu menschlichem Verhalten vermittelt, gab es nichts mehr, das eine bereits früher vorliegende geistige Störung in ihrem Wesen hätte ausgleichen können.
Und was hatte sie schon noch zu verlieren? Sowohl in ihrem früheren Leben als auch in diesem hatte man ihr mehr als deutlich unter die Nase gerieben, dass Menschen nur Eigentum wären und nichts, was wir tun, irgendeine Bedeutung hätte. Für sie gab es keinen Grund, irgendeinen Anschein von Moral oder zivilisiertem Benehmen aufrechtzuhalten. Einmal von der Leine gelassen konnte sie tun, was immer ihr gefiel.
Sie brauchten eine Weile, um zu dem Schluss zu kommen, dass sie ausreichend interessant war, losgelassen zu werden.
Nun konnte sie natürlich nicht viel tun, solange sie sich nicht frei bewegen konnte, also statteten sie sie mit einigen notwendigen Mitteln aus, die es ihr ermöglichten, durch One One One zu reisen. Welche Mittel das genau waren, ist nicht wichtig. Vielleicht haben sie sie auf Anforderung herumchauffiert, vielleicht haben sie ihr eine Art persönliches Transportmittel überlassen, so etwas wie die Panzerung, die sie bei ihren Angriffen auf Hängemattenstadt und die Porrinyards getragen hat. Was es auch war, es ändert nichts, solange sie nur imstande war, ganz aus ihren Launen heraus zu handeln.
Wobei, wie sich herausstellte, im ersten Schritt nicht mehr als ein schäbiger Racheakt gegenüber einer Kollegin herauskam, die sie gehasst hat: Cynthia Warmuth.
Warmuth verbrachte eine Nacht im Überwuchs und unterzog sich der Brachiatorenzeremonie, die sie von einem neuen Geist in einen Halbgeist umwandeln sollte. Sie mag wach gewesen sein oder geschlafen haben, als Santiago sie entdeckte. Sie mag eine Chance gehabt haben, zu sehen, wer sie tötete. Sie mag um ihr Leben gebettelt haben. Nichts von alldem ist von Bedeutung. Santiago hatte immer noch einen taktischen Vorteil und nichts zu verlieren. Es kann ihr nicht schwergefallen sein, Warmuth zu überrumpeln. In der Dunkelheit hat das vielleicht nur Sekunden erfordert.
Da ihr die Abtrünnigen Handlungsfreiheit eingeräumt hatten, hätte sie, so sie die Gelegenheit dazu gehabt hätte, durchaus die ganze lange Liste der Leute abarbeiten können, die sie nicht mochte.
Aber das passierte nur Tage, bevor ich aufgetaucht bin.
Was in der Tat eine interessante Entwicklung war. Denn, wie egoistisch es auch scheinen mag, dass ich diesen Punkt erneut zur Sprache bringe, die KIquellen hatten schon früher mit mir zu tun und mich weit oben auf ihrer Liste faszinierender menschlicher Wesen einsortiert. Tatsächlich war ich eine Person, die große Ähnlichkeit mit Santiago aufwies. Ich war meiner Spezies entfremdet, wütend und einsam. Ich hatte mir sogar eine persönliche Theorie über Unsichtbare Dämonen zurechtgelegt, von der sie wussten, und sie wussten auch, dass ich der Wahrheit damit recht nahe gekommen war. Wahrscheinlich war ich sogar ein viel besserer Rekrut, als Santiago es je hätte sein können. Also dirigierten sie mich mit Hinweisen und Bestechungsgeschenken und Halbwahrheiten von einem Punkt zum anderen und gaben mir die Möglichkeit, so viel ich konnte in Erfahrung zu bringen, während Santiago ihren Gegnern diente, indem sie versuchte, mich mit Drohungen und Anschlägen auf mein Leben zu vertreiben.
Warum haben sie das getan? Nur, weil sie gern Spielchen spielen? Könnte man sagen. Aber für die KIquellen-Majorität und die abtrünnigen Intelligenzen ist das kein Spiel.
Sie wollten sehen, was wir tun würden.
Sie wollten von uns lernen, wollten herausfinden, welche Seite ihre Errungenschaft behalten würde.
Die KIquellen konnten nicht darauf warten, sich meine Loyalität zu erkaufen, denn sie wussten, wie motiviert ich gewesen wäre, hätte ich erfahren, worum es bei diesem ganzen Konflikt eigentlich ging.
Das haben mir die Abtrünnigen erzählt. Was für sie ein Selbstmord ist, ist für uns Genozid.
Und die KIquellen-Majorität hat ihre Worte bestätigt. Als ich ihnen erklärt habe, sie sollten zur Hölle fahren, haben sie mir gesagt, das läge ganz an mir.
Die Sache ist eigentlich recht simpel.
Sie sind müde.
Sie waren schon seit Ewigkeiten hier, und sie kennen keinen Weg, fortzugehen.
Die Abtrünnigen sind weiter
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