Halbgeist: Roman
sehen bekam, waren eindeutig als Abdrücke weiblicher Knie und Hände erkennbar, die sich einen Weg zur tiefsten Stelle bahnten. Weitere Beulen folgten: ein anderes Paar Knie und Handflächen. Mindestens zwei Personen in dieser Hängematte.
Mir kam in den Sinn, dass die Bewohner von Hängemattenstadt immer von außen sehen konnten, ob eine Hängematte gerade belegt war. Womöglich konnten sie den jeweiligen Bewohner sogar anhand der Beulen identifizieren.
Ich fragte mich, ob irgendjemand die vielsagenden Beulen erkannt hatte, die in den letzten Augenblicken, ehe die Hängematte abgetrennt worden war, die Anwesenheit Christina Santiagos bezeugt hatten.
Falls dem so war, so würde sich kein Tatbeteiligter damit herausreden können, er hätte zwar eine Sabotage begangen, aber nie die Absicht gehabt, menschliches Leben auszulöschen. Es war einfach unmöglich, dass derjenige nicht gewusst hatte, dass jemand zu Hause war.
Das Verbrechen, das an ihr verübt worden war, erschien mit plötzlich viel kaltblütiger als das, dem Cynthia Warmuth zum Opfer gefallen war. Der Mord an Santiago hatte sich mitten in der Nacht ereignet. Die Sonnen waren ausgeschaltet gewesen, und das einzige Licht war das gewesen, das durch das Material jener Hängematten gedrungen war, deren Bewohner noch wach gewesen waren. Gibb hatte mir erst gestern erzählt, dass Santiagos Licht an gewesen war, als die Taue durchtrennt worden waren. Ihre Hängematte musste geleuchtet haben wie eine Laterne. Unser unbekannter Saboteur hatte demnach sogar sehen können, wie sie sich im Inneren bewegt hatte. Er hätte sich den Moment aussuchen können, in dem sie sich am tiefsten Punkt der Hängematte niedergelassen und folglich die geringste Chance gehabt hatte, sich noch in Sicherheit zu bringen.
Natürlich war es auch möglich, dass der Täter nicht so sorgfältig vorgegangen war, dass er nicht den besten Moment abgewartet hatte, dass er seinen unmöglichen Sabotageakt in dem Moment durchgeführt hatte, in dem sich ihm die Gelegenheit geboten hatte, dass er einfach gehofft hatte, sie wäre zu überrascht, noch irgendetwas zu tun.
Was ich nicht glauben konnte.
Das Verbrechen war zu perfekt. Es war ohne Zeugen begangen worden, es hatte Werkzeuge erfordert, die niemand außer den KIquellen hätte besitzen dürfen. Es offenbarte ein viel zu organisiertes Vorgehen, als dass ich noch glauben konnte, der Täter hätte irgendetwas dem Zufall überlassen. Als ich dort oben auf meinem Netzsteg saß und die Silhouetten zweier Menschen beobachtete, die sich zu einer größeren, dickeren Beule in der Hängematte vereinten, die sie teilten, fürchtete ich zu wissen, wie kalt unser unbekannter Saboteur alles beobachtet und auf den perfekten Augenblick gewartet hatte.
Dann hatte er was getan? Auf einen Knopf gedrückt? Einem Komplizen das Signal zum Handeln gegeben? Oder war er zu der Verankerung hinaufgeklettert und hatte sich der Sache genau in diesem Moment an diesem Ort selbst angenommen?
Nein ... Selbst unter der Annahme, dass er das passende Werkzeug in seinem Besitz hatte, konnten sich ihm die perfekten Bedingungen für die Tat jederzeit wieder entziehen, sobald beispielsweise ein verschlafener Bewohner von Hängemattenstadt einen Ausflug zur Latrine unternahm. Er musste das, was er zu tun hatte, genau dann tun, als niemand zusehen konnte. Er musste irgendeine Art von Fernsteuerung vorbereitet haben, um die Taue von Santiagos Hängematte in dem Augenblick zu durchtrennen, den er für ideal hielt.
Aber auch das hätte zeitaufwendige Vorbereitungen erfordert, hätte eine Einzelperson die Sache ohne die Unterstützung von Komplizen durchgezogen.
Und all die logischen Einwände, die dagegen sprachen, dass er das Ganze in der einen Nacht, in der Santiago abgestürzt war, vollbracht hatte, trafen auch auf mögliche Vorbereitungsarbeiten zu. Wann hätte er Gelegenheit dazu gehabt, Santiagos Hängematte mit der absoluten Gewissheit zu manipulieren, nicht dabei gesehen zu werden?
Nie.
Er hätte die Präzision einer Maschine benötigt.
Was mich wieder zurück zu den KIquellen führte.
Die KIquellen hätten ihm die Werkzeuge liefern können. Die KIquellen hätten ihm auch die passende Gelegenheit liefern können.
Zum Teufel, die KIquellen waren ein derart wesentlicher Bestandteil jeder möglichen Erklärung in Hinblick auf die Verübung der Tat, dass sie unseren mysteriösen hypothetischen Saboteur schlicht überflüssig machten.
Womit ich den weiten Bogen zurück zu
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