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Halbgeist: Roman

Halbgeist: Roman

Titel: Halbgeist: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam-Troy Castro
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bemitleidet hatte? Ich zweifelte nicht daran, dass sein Kummer echt war, aber das hatte nichts zu bedeuten; manche Leute trauern so bereitwillig wie andere atmen, und unter den Trauernden waren bisweilen auch genau die Leute, die den Anlass zum Trauern geliefert hatten, indem sie gemordet hatten.
    Ich wartete einen Moment, ehe ich fragte: »Wer, denken Sie, hat sie ermordet, Lehnsmann?«
    Er tupfte sich die Augen ab. »Mr. Gibb sagt, die KIquellen hätten es getan, aber das ergibt für mich einfach keinen Sinn. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die KIquellen so etwas Unsinniges tun würden. Vielleicht habe sogar ich etwas getan, das dazu beigetragen hat. Wäre das nicht ein ganz besonderer Höllenritt?«
    Ich sah, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehten, wie sie Szenarien ausbrüteten und mögliche Gründe herausarbeiteten, warum seine Beziehung zu Santiago zu ihrem Tod geführt haben könnte. Schuldig oder nicht, er hatte ein Gewissen; schuldig oder nicht, der Vorfall konnte sich auf ihn durchaus zerstörerisch auswirken; schuldig oder nicht, das war vielleicht nicht das, was er sich wünschte.
    Was nun folgte, war ein kalkuliertes Risiko, basierend auf meiner eigenen, plötzlichen und irrationalen Gewissheit, dass seine einzige Schuld darin bestand, seinem Herzen gefolgt zu sein. »Mr. Negelein, ich muss Sie bitten, meine nächste Frage für sich zu behalten und sie niemandem gegenüber zur Sprache zu bringen, nicht einmal Mr. Gibb gegenüber.«
    Negelein schien erst jetzt wieder auf mich aufmerksam zu werden. »In Ordnung.«
    »Unter den weniger bedeutsamen Beweismitteln in diesem Fall befinden sich Hytex-Drohungen, die animierte Simulationen von Gewaltverbrechen an einer Person beinhalten, die sich derzeit an Bord von One One One befindet. Nicht Santiago oder Warmuth, möglicherweise handelt es sich aber um ein zukünftiges Opfer. Diese Animationen sind sehr realistisch, sehr detailliert und sehr verstörend. Ich denke, man könnte sie als Kunstwerke bezeichnen.«
    Er schniefte. »Das dürfte wohl eher Handwerkskunst sein.«
    »Ja, gut, wie auch immer, gibt es hier irgendjemanden, der Ihres Wissens imstande ist, derartige Botschaften zu produzieren?«
    Er studierte mich aus zusammengekniffenen Augen. »Um das zu beurteilen, müsste ich die Botschaften sehen.«
    »Unmöglich.«
    »Liegt das daran, dass sie als geheim eingestuft sind, oder daran, dass sie nicht mehr existieren?«
    In beiden Fällen war es mir nicht gelungen, Zugriff auf die Signalkette zu nehmen, die der Versendung gefolgt war. Aber das musste er nicht wissen. »Geheimsache.«
    »Verstehe.« Er rieb sich das Kinn und sah furchtbar müde aus. »Ich kann kein endgültiges Urteil darüber abliefern, was die Leute tun können oder nicht tun können. Ich bin nicht in der Lage, eine Aussage über diese Bilder zu treffen, wenn ich sie nicht studieren kann, um herauszufinden, wie sie hergestellt wurden. Aber da auch ein Nichtkünstler mit Zugang zu dem entsprechenden Quellenmaterial fortschrittliche KI-Routinen dazu benutzen könnte, derartige Botschaften auf Kommando produzieren zu lassen, hängt die Qualität der Bilder womöglich allein von der Art der Besessenheit ab, die dahintersteht.«
    »Gehen Sie von extremer Besessenheit aus.«
    Er dachte darüber nach. »Damit wäre alles möglich.«
    Was im Hinblick auf Mord zufällig ebenso wahr war wie im Hinblick auf Kunst.
    Mein letztes Gespräch an diesem Tag führte ich mit jemandem, der wie Negelein bereits mehrfach erwähnt worden war: der Exosoziologin Zweiter Klasse Mo Lassiter. Sie war eine der stämmigsten Frauen, die mir je begegnet waren, überaus muskulös, sogar für die überspitzten Verhältnisse auf One One One. Ihre Arme füllten ihre hautengen schwarzen Netzärmel aus wie starke Äste. Sie hatte einen olivfarbenen Teint, ihren Kopf bedeckte ein zentimeterdicker Flaum schwarzer Haare, ihr Kinn erinnerte an einen Feldstein, und ihre braunen Augen waren so klein, dass man das Weiße kaum noch sehen konnte.
    Wäre sie mir mit der passenden Miene begegnet, sie hätte ein Musterbild eines beängstigenden Schlägers abgegeben. Stattdessen jedoch schenkte sie mir ein zwangloses Lächeln. Das machte den Unterschied aus zwischen einem Gesicht an der Grenze zum Grotesken und einem, das eine ganz eigene, exzentrische Form von Anstand vermittelte.
    Als wir an dem Punkt angelangt waren, an dem es sich um andere Leute drehte, erging sich Lassiter kaum in tiefsinnigen Analysen. Stattdessen äußerte

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