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Halbmast

Halbmast

Titel: Halbmast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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bedauern wir, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir Ihr Arbeitsverhältnis fristgerecht zum 31. 1. nächsten Jahres kündigen.
Wir wünschen Ihnen alles Gute für Ihren weiteren beruflichen Lebensweg und   …
    Blablabla.
    Charline hatte geheult und gefragt, ob sie denn nicht heiraten und ganz schnell ein Kind machen könnten, da junge Familienväter unter einem besonderen Kündigungsschutz stünden. Charline war zwar lieb, aber auch unglaublich naiv. Er hatte sie getröstet und gesagt, dass er, wenn überhaupt, aus Liebe heiraten wollte. Es hatte keine zwei Wochen gedauert, und sie war weg. Sie hatte die Sachen aus der gemeinsamen Wohnung geräumt, ganz akribisch: die Nagelfeile, die Spaghettizange, den bunten Überwurf für das alte Sofa. Da es nur einen Nachmittag gedauert hatte, alles in drei Jahren angesammelte Inventar auseinander zu sortieren, hatte er gemerkt, dass sie den Auszug von langer Hand geplant hatte. Wahrscheinlich, seitdem ihr der Inhalt dieses Briefes und sein Nein zu einer baldigen Heirat bekannt gewesen waren.
    Charline lebte wieder bei ihrer Mutter. Marten hatte gehört, dass sie sich bereits getröstet hatte. Mit Dietmar von der freien Tankstelle am Ortseingang von Weener. Er hatte sich nicht so schnell getröstet. Im Gegenteil. Es war von Tag zu Tag schlimmer geworden. Jede Stunde, die seine Entlassung näher gerückt war, war es ihm schlechter gegangen. Vielleicht hatte er da schon begonnen, sich zu verändern.
    Natürlich hatte Marten sich gleich nach Erhalt des Briefes anderswo beworben. Sowohl bei den großen Werften in Hamburg und Bremerhaven als auch bei den mittelgroßen Reparaturdocks in Emden und Wilhelmshaven, sogar bei den ganz kleinen Sportbootbastelläden in Norddeich und Neßmersiel. Doch er war natürlich nicht der Einzige, der jetzt dringend einen neuen Job suchte. Und irgendwie schien immer jemand eher da oder besser qualifiziert gewesenzu sein. Oder jünger. Dabei war Marten erst dreiundvierzig, auch wenn er älter wirkte. Zwar war er kräftig und konnte gut anpacken, doch er war nicht gerade sportlich durchtrainiert. Er war nicht der Typ, dem man in schlechten Zeiten wirklich eine Chance geben wollte.
    Hundert Entlassungen. Im Herbst waren auch schon fünfzig gegangen worden. Und man sprach bereits davon, dass es im Sommer wieder einige treffen würde.
    Dann war der Stichtag gewesen. Mitten im Winter. Das Wetter war eigentlich viel zu schön gewesen, Sonne und blauer Himmel. Es hatte überhaupt nicht zu seiner Stimmung gepasst. Denn als er den Spind geräumt und das letzte Mal den Kollegen «’n Feierabend» zugerufen hatte, war seine Stimmung mehr als trüb gewesen.
     
    «Bitte, lassen Sie mich gehen. Ich habe eine Familie, verstehen Sie? Meine Älteste kommt im Sommer auf das Gymnasium, ich bin so stolz auf sie, Greta ist ihr Name, sie ist bildschön.» Jetzt weinte er ganz leise. Vielleicht hatte er gemerkt, dass sein Geschrei auf die Dauer nervtötend war. «Und mein Sohn heißt Johannes. Er ist ein Teufelskerl. Ich bewundere meine Frau, dass die bei uns zu Hause alles managt.»
    Woher nahm dieser Mann die Kraft, nach vier Stunden noch immer vollständige und verständliche Sätze zu formulieren? Er lag inzwischen regungslos da und erzählte von seinen Lieben zu Hause. Natürlich wollte er damit eine persönliche Bindung aufbauen. Vielleicht hoffte er auf Mitleid. Aber Marten war nicht dumm. Und wenn dieser Mann hier zehn Jahre lang studiert hatte und Marten ein Typ war, den man als einfachen Arbeiter beschreiben konnte, er war nicht dumm. Er beschloss, ein wenig so zu tun, als ließe er sich von seinem Gefangenen aufs Glatteis führen.
    «Haben Sie auch Haustiere?» Der Mann reagierte verschreckt. Bislang hatte Marten geschwiegen.
    «Ja», er antwortete schnell, beinahe hastig. Wahrscheinlich witterte er seine Chance auf ein Gespräch. «Meerschweinchen. Johannes und Greta haben jeder eines zu Weihnachten bekommen. Im Zoohandel haben sie uns gesagt, es wären garantiert zwei Männchen, aber inzwischen haben wir, soweit ich weiß, sechs. Wir könnten die Tiere zum Zoohandel bringen, aber die Kinder haben eine solche Freude an den Viechern   …»
    Marten blieb regungslos sitzen, den Blick auf den Gefesselten gerichtet. Dieser schien wirklich für einen Moment geglaubt zu haben, dass Marten mit ihm reden wollte und in die Falle getappt wäre.
    Marten aß eine Banane. Sie war noch grünlich und das Mark so fest wie ein Apfel. Er hatte sie heute Morgen auf dem

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