Halbmast
Wochenmarkt gekauft, weil er gewusst hatte, dass es heute länger gehen könnte. Nun musste es fast acht Uhr abends sein. Nachmittags hatte er seinen Plan in die Tat umgesetzt. Um vier war er schon hier drin gewesen. Im Ballasttank. Einem Ort, wo vor morgen Nachmittag keiner suchen würde.
Er würde gleich nach oben klettern und auch die Taschenlampe mitnehmen, zurücklassen würde er einen heißen, stockdunklen Raum und einen verzweifelten Mann.
Als er Svetlana kennen lernte, da war er sich sicher gewesen, dass es nun aufwärts ging in seinem Leben.
Bei der Pommesbude war sie ihm vor die Füße gelaufen, eine Bratwurst in der Hand und Senf im Mundwinkel. Sie hatte gelächelt und «Entschuldigung» gesagt. Doch dann war die Wurst auf den sandigen Boden gefallen, und er hatteseit Wochen das erste Mal wieder etwas getan, was nicht nur mit Selbstmitleid zu tun hatte: Er hatte sie zum Essen in die Pizzeria eingeladen.
Svetlana kam aus Polen, doch sie konnte relativ gut Deutsch sprechen. Ihre Mutter arbeite schon seit zehn Jahren in einem Hotel auf einer ostfriesischen Insel, sie habe auch drei Sommer mitgeputzt, dadurch hätte sie die Sprache gelernt, sagte sie. Sie hatte dabei eine ganz glockenklare Stimme und gespitzte Lippen, als wolle sie ein Lied pfeifen. Ihr dunkelblonder Pferdeschwanz sah wirklich hübsch aus, und wenn sie lachte, hüpfte der Zopf auf und ab. Das brachte ihn dazu mitzulachen. Sie hatten sich öfter getroffen. Zum Spazierengehen. Zum Essen. Zum Einkaufen. Immer tagsüber. Abends hatte sie keine Zeit.
Svetlana hatte nicht über ihre Arbeit gesprochen. Erst hatte er sich Gedanken gemacht, ob sie vielleicht anschaffen ging. Ob irgendein Zuhälterschwein sie auf den Strich schickte. Deswegen hatte er sie auch nie angefasst. Manchmal hatte sie sich an ihn geschmiegt wie ein kleines Mädchen und ihren spitzen Mund an seinen Hals gehalten, sodass er ihren warmen Atem an seiner Haut spürte. Trotzdem hatte er seine Finger von ihr gelassen. Weil er eben Angst hatte, dass sie ihren Körper auch woanders einsetzte. Aber so war es nicht gewesen. Er hatte es erst später erfahren. Zu spät.
Vielleicht hätte sie sich ihm anvertraut, wenn er ihre Zärtlichkeiten erwidert hätte. Wenn er ihr nur einen einzigen Kuss gegeben oder beim Spazierengehen ihre Hand genommen hätte. Dann hätte sie ihm von ihrer Arbeit erzählt. Und dann hätte er vielleicht ihr Leben retten können.
«Bleiben Sie hier! Sie können doch nicht gehen! Sie können mich doch hier nicht allein lassen!»
Marten antwortete nicht. Er stieg die schmale Stahlleiter nach oben.
«He! Was soll das! Sagen Sie mir doch, was ich tun soll! Was kann ich machen? Brauchen Sie einen Job? Sind Sie einer von denen, die entlassen wurden? Ich kann da was deichseln! Wirklich! Ich kenne Schmidt-Katter persönlich! Er ist mein Schwager. Sie können wieder arbeiten, wenn Sie wollen, schon morgen!»
Marten drückte den Lukendeckel nach oben. Das Licht aus dem Maschinenraum blendete ihn. Er hörte den Mann dort unten nur noch ganz leise, kaum verständlich:
«Ich glaube, Sie haben den Falschen erwischt. Ich bin doch nur der Betriebsarzt. Hören Sie nicht? Sie müssen mich verwechselt haben!»
Marten schob sich aus der Luke, der Deckel fiel schwer zurück. Er drehte die große Schraube fest zu. Noch hatte keiner gemerkt, dass er nicht auf das Schiff gehörte, da er Werkskleidung trug. Marten hatte sich einen Schweißeranzug samt Schutzhelm und Brille aus der Reinigungsabteilung genommen. Als er an Bord gegangen war, hatte sich niemand nach ihm umgeschaut. Er war für einen kurzen Moment wieder einer von ihnen gewesen, und er hätte nur zu gern mitgearbeitet. Die Stimmung so kurz vor der Überführung war immer etwas Besonderes. Alle waren dann so hektisch, aber auch so konzentriert. Bislang hatte die Werft Containerschiffe, Autofähren und so etwas in der Art gebaut. Die
Poseidonna
würde morgen alles in den Schatten stellen.
Inzwischen hatten die Arbeiter jedoch das Schiff verlassen. Es war merkwürdig still und menschenleer. Eigentlich hatte Marten vorgehabt, genau jetzt von Bord zu gehen. Er hatte seine Sache hier erledigt. Es hatte nur ein wenig länger gedauert als geplant. Er hätte sich nicht auf ein Gesprächeinlassen sollen. Nun war das Portal, durch das die Arbeiter bei Feierabend die
Poseidonna
verließen, bereits geschlossen. Er hatte gehofft, mit der Masse der abziehenden Arbeiter durch die Kontrolle zu rutschen. Dies war nun nicht mehr
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