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Halbmast

Halbmast

Titel: Halbmast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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wie ein kleiner Junge. Kein Schmuck, kein Make-up, kurze Haare. Aber hübsch, soweit er es in seinem Schrecken ausmachen konnte.
    Sonst war es erstaunlich einfach gewesen, unentdeckt an Bord der
Poseidonna
zu bleiben. Die Wachtrupps patrouillierten gewissenhaft, sie wanderten mit konzentriertem Blick über das Deck, durch die Flure und die Maschinenräume. Doch Marten kannte sich einfach besser aus. Er kannte die versteckten Winkel in den Klimaräumen. Es gab geheime Schächte, durch die die gewaltigen, silbernen Lüftungsrohre verliefen und das Schiff mit ideal temperierter und frischer Luft versorgten. Er selbst hatte tagelang in den engen Winkeln gearbeitet und die langen Kriechgänge miteinander verschweißt. Auf jedem dritten Deck gab es drei Klimazentralräume im Abstand von hundert Metern. Die Räume verbanden das eigene sowie das darüber und darunter liegende Deck. Zwischen den einzelnen Lüftungsschächten gab es Luken, die einem – unter enormer Kraftanstrengung – das Erklimmen des gesamten Schiffes ermöglichten. Marten hatte sich den Verlauf dieses Rohrsystems beim Schweißen verinnerlicht. Ganz unbewusst. Aber nun nutzteihm dieses Wissen. Auf diesen Wegen konnte er sich beinahe so frei bewegen, als wäre er legal an Bord. Er musste nur den Rhythmus der Patrouillen abpassen, um vom vorderen Klimaraum in den mittleren oder den hinteren zu gelangen. Und in den Räumen selbst verliefen genügend gewaltige Rohre, hinter denen man sich notfalls schnell verstecken konnte, wenn es eng wurde.
    Irgendwie hatte es Marten sogar Spaß gemacht, die anderen auszutricksen. Es war ein kleines Abenteuer. Seit zehn Minuten brummten die Schiffsmotoren, und er war noch immer an Bord. Gleich würde es losgehen, und er war dabei.
    Er musste einen Weg an Deck finden. Er wollte an der Reling sein. Er wollte die Menschen am Kai stehen sehen, wie sie winkten und jubelten und den Weg des Schiffes verfolgten. Er hatte auch einen Anteil an diesem Tag. Er war dabei gewesen, als der steinreiche amerikanische Reeder Sinclair Bess vor etlichen Monaten den «Glückscent» auf die Pallungen legte, bevor der erste Vierhundert-Tonnen-Block vom riesigen Kran darauf abgesetzt wurde. Er war einer der Trauzeugen gewesen, die bei der so genannten Hochzeit, also dem Zusammentreffen von Schiffsrumpf und Motor, applaudiert hatten. Noch vor vier Monaten hatte er selbst die einzelnen Blöcke, die wie gigantische Legosteine zusammengesetzt wurden, miteinander verschweißt. Seine Arbeit steckte in diesem Schiff, sein Schweiß, und darauf war er stolz. Er hatte seinen Job wirklich gern gemacht. Auch wenn es Knochenarbeit gewesen war, er war gern Schweißer gewesen. Denn das Gefühl, etwas geleistet zu haben, war jede Anstrengung wert gewesen. Er hatte sich am richtigen Platz gefühlt, wenn er durch die Schutzbrille auf den gleißenden Strahl schaute und Nähte zusammenschweißte. Seit seiner Entlassung hatte er nur ein- oderzweimal ein vergleichbares Gefühl gehabt. Und das war mit Svetlana gewesen.
    Dies war der letzte Gang. Ganz hinten konnte Marten bereits die Tür nach draußen erkennen. Er hatte nicht übel Lust, drauflos zu rennen. Die lange Nacht im Inneren des Schiffes war anstrengend gewesen, und er freute sich auf die frische Luft an Deck. Beinahe hätte er die Schritte überhört, die hinter ihm im Flur erklangen.
    Marten drehte sich hektisch um. Zwei Wachmänner tauchten nur wenige Meter entfernt am Ende des Korridors auf. Zum Glück waren diese beiden damit beschäftigt, sich gegenseitig die Handys zu erklären. Neben ihm war eine Nische, in die später einmal der Feuerlöschschlauch montiert werden würde. Eng und niedrig, aber die einzige Chance. Er zwängte sich eilig in das kleine Versteck und hielt den Atem an. Erst jetzt entdeckte er, dass ihm beim Sprung in die Nische die Schweißermaske aus der Hand gefallen sein musste. Die Zeit reichte nicht, das Teil wieder aufzuheben, er konnte nur hoffen, dass er sich mit dieser Unachtsamkeit nicht selbst verraten hatte. Einer der Uniformierten stieß mit dem Fuß gegen die Maske und hob sie verwundert auf. «Hast du ’ne Ahnung, wo das herkommt?»
    Der Kollege sah eher desinteressiert auf das Fundstück. «Haben die Arbeiter bestimmt vergessen.»
    «Ja, aber lag das vorhin auch schon da?»
    «Jens, auch wenn die Gänge hier alle gleich aussehen, hier sind wir beide noch nicht langgelatscht. Wir haben doch eben die Schicht getauscht. Sonst wird man auch meschugge in diesem Labyrinth

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