Halbmast
hier!»
«Ach, stimmt. Aber komisch ist das schon. Die Kollegen hätten das Ding doch auch aufgehoben.»
«Willst du die jetzt in die Pfanne hauen deswegen? Lass es lieber!»
Der eine Wachmann ging weiter. Der andere blieb stehen, schaute sich noch immer um, und Marten zwängte sich tiefer in die Nische. Er war sich sicher, dass sein Versteckspiel im nächsten Augenblick zu Ende sein würde. Luft anhalten brachte wahrscheinlich auch nicht viel. Gleich würden sie ihn entdecken. Er war nicht gerade schlank, seine eins neunzig Körpergröße war ebenfalls ganz schön hinderlich, vom zu engen geliehenen Schweißeranzug ganz zu schweigen. Als der Uniformierte dann doch weiterging, meinte er vor Erleichterung zu zerfließen. Er blieb noch sitzen, als die Schritte der Stiefel schon längst nicht mehr zu hören waren. Als er schließlich herauskroch, wurde ihm erst bewusst, dass er mit der Schweißermaske seine Tarnung verloren hatte. Von nun an musste er noch mehr auf der Hut sein. Er konnte auch nicht mehr unerkannt zu Perl in den Ballasttank steigen. Aber das hatte er ohnehin nicht vorgehabt.
Endlich erreichte er das Deck. Die Luft war angenehm feucht und nicht kalt. Es gab heute frischen Wind, und die Sonne tauchte allmählich über der Stadt auf. Es würde ein idealer Tag für die Überführung sein. Sicher würden der Kapitän und seine Crew die
Poseidonna
wie geplant schon heute am frühen Abend aus dem Fluss heraus bis zur Dollartmündung und der Nordseeküste gebracht haben. Und von dort war es nur noch eine kurze Reise bis nach Eemshaven. Dort würde das Schiff noch den letzten Schliff verpasst bekommen, bevor es offiziell an die amerikanische Reederei übergeben wurde.
Marten fand einen Platz neben den Rettungsbooten. Es gab dort eine Leiter, die nach oben zur Vertäuung führte, sie war links und rechts schützend verkleidet. Er schob sich in die Öffnung und gewann so einen guten Überblick auf die Werftanlage, die Innen- und Außendocks, die Kräneund Hebebühnen. Seitdem er mit sechzehn nach dem Realschulabschluss seine Lehre hier bei Schmidt-Katter begonnen hatte, war dies einer der Orte gewesen, an dem er während der Woche die meiste Zeit verbracht hatte. Von hier oben sah alles so anders aus. Die gespannten Schaulustigen strömten wie eine Ameisenkolonie in geordneten Bahnen Richtung Absperrung. Jeder wollte möglichst nah an die
Poseidonna
heran, wollte den Klang des Signalhorns vibrieren fühlen, wenn die Reise losging.
Er hörte Schritte, ein leises Atmen direkt neben sich. Nur die Verkleidung der Leiter trennte ihn von einem weiteren Geräusch: ein Klicken. Das war ein Fotoapparatklicken. Zehn- bis zwölfmal drückte diese Person neben ihm auf den Auslöser, dann sagte sie, es war also eine Frau, kaum hörbar: «Danke, das war’s!» und ging davon. Er wagte einen Blick aus seinem Versteck. Es war die Frau von gestern. Sie trug nun Hose und ein langärmliges Hemd. Er sah sie nur von hinten, doch an ihrem wippenden Gang und den glatten, kurzen Haaren erkannte er die Unbekannte, die ihm gestern Nacht an der Zwischentreppe aufgefallen war. Sie ging in Richtung Kapitänsbrücke.
Dieses Mal hatte sie ihn nicht so erschreckt, vielleicht war er aber inzwischen auch einfach zu gerädert, um noch wirklich zu reagieren, wenn Gefahr drohte.
Er dachte an Doktor Perl. Wie mochte er sich jetzt fühlen? Wahrscheinlich hatte er schon mit seinem Leben abgeschlossen, rechnete nicht damit, je entdeckt zu werden. Perl hatte keine Ahnung, wie es an Bord der Schiffe zuging, er hatte keine Ahnung von der harten Arbeit, die hier geleistet wurde. Und er hatte eben auch keine Ahnung, dass die Ballasttanks vor der ersten Beflutung noch einmal kontrolliert werden würden und man ihn dann, mit Sicherheit noch vor heute Abend, befreien würde. Denn wenn die
Poseidonna
die Nordsee erreicht hatte und sich in Richtung Eemshaven aufmachte, würde man die stabilisierenden Tanks links und rechts des Schiffsrumpfes mit Wasser fluten. Und laut Plan erreichte das Schiff heute Nachmittag gegen 15 Uhr die Nordsee. Dann würde Perl vielleicht schon ohnmächtig sein, aus Angst, aus keinem anderen Grund. Sauerstoff war genügend vorhanden, von daher könnte er noch einige Stunden, wenn nicht sogar Tage länger da unten bleiben.
Marten schaute wieder auf das Werftgelände. Das Licht der mächtigen Strahler, die den Star des frühen Morgens, die
Poseidonna
, beschienen, drang in seine Augen. Vielleicht würde es jetzt besser werden.
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