Halbmast
Vielleicht würde diese Fahrt für ihn einen Neuanfang bedeuten. Er konnte nicht ewig an Svetlana denken. Sie war nun seit zwei Monaten tot. Und er hatte sie nur vier Wochen gekannt. Die Zeit nach ihr war also schon mehr als doppelt so lang wie die Zeit mit ihr. Es konnte doch nicht so schwer sein, sie zu vergessen. Er war doch sonst nicht so ein Weichei. Was tat so verdammt weh? War es wirklich Svetlana? Oder die Tatsache, dass man ihn verarscht hatte. Dass man ihn abgespeist hatte mit Schwafeleien von schlechter Auftragslage und kritischen wirtschaftlichen Zeiten. Und er in Wahrheit dies alles hier hatte verlassen müssen, weil ein anderer billiger gewesen war.
Svetlana hatte ihm nichts von diesen Schmerzen erzählt. Wenn er an ihr letztes Treffen dachte, dann verwünschte er seine unsensible Art. Er war ein Klotz, wenn es um solche Sachen ging. Natürlich hatte es Anzeichen gegeben. Sie hatte nichts gegessen. Obwohl sie Pizza Calzone liebte, hatte sie keinen Bissen angerührt. Zudem war sie sehr wortkarg gewesen und hatte sich ab und zu etwas gekrümmt, nicht dramatisch, aber sie hatte sich ihre Hände auf denBauch gelegt und sich nach vorn gebeugt. Doch, einmal hatte er nachgehakt. «Ist was?», hatte er gefragt. Sie hatte den Kopf geschüttelt und gelächelt. Im Nachhinein überlegte er manchmal, ob dieses Lächeln verzerrt gewesen war, aber er konnte es heute nicht mehr mit Sicherheit sagen. Er war einfach kein Typ zum Rätselraten, hätte sie ihm einfach klipp und klar gesagt, dass es ihr mies ging, dann hätte er doch anders reagiert. Auffällig war an diesem Tag gewesen, dass sie ihn gebeten hatte, sie nach Hause zu bringen. Er hatte überhaupt nicht gewusst, wo und wie sie lebte, schließlich war er davon ausgegangen, dass sie irgendwo ein kleines, schäbiges Zimmer über einer Rotlicht-Bar bewohnte. Erst bei diesem letzten Treffen war ihm klar geworden, dass sein Verdacht nicht stimmte. Svetlana wohnte in einem gepflegten Mehrfamilienhaus in der Mörkenstraße. Er wusste nicht, in welchem Stockwerk, weil sie ihm, nachdem sie die Tür aufgeschlossen hatte, nur einen kurzen Abschiedskuss gab und anschließend hinter der Milchglasscheibe verschwand.
Er wusste noch genau, dass er fröhlich gewesen war. Sie war also doch keine, die es für Geld machte. Sie lebte in einem normalen Haus in einer normalen Straße in Leer. Dann ging sie vielleicht putzen oder arbeitete nachts in der Spülküche eines Restaurants. Er wusste mit einem Mal selbst nicht mehr, warum er ein solcher Idiot gewesen war und Svetlana für eine Prostituierte gehalten hatte. Marten nahm sich vor, in Zukunft nicht immer so misstrauisch zu sein. Vielleicht war es doch möglich, dass er einfach mal Glück hatte und sie die Richtige für ihn war. Das hatte er gedacht und war pfeifend nach Hause spaziert.
Umso tiefer traf es ihn, dass dies der letzte Moment gewesen war, den er in ihrer Nähe gewesen war. Seine Vorstellung von einem Leben zu zweit wäre vielleicht wahr geworden,wenn er bemerkt hätte, dass ihr Bauch schmerzte wie die Hölle. Aber er hatte es nicht bemerkt. Weil er solche Dinge eben nicht sah. Er war einfach nicht so ein sensibler Typ.
Es war komisch, von einem Geruch aus den Gedanken gerissen zu werden. Zigarettenrauch stieg ihm in die Nase, nur ganz leicht, aber Marten konnte sich nicht erklären, woher er kam. Er spähte an Deck, doch niemand war zu sehen, auch keine Sicherheitsmänner. Wahrscheinlich standen gerade alle an der Reling und erwarteten den großen Augenblick, wenn zu Beginn der Reise das Nebelhorn erschallte. Aber trotzdem roch es hier nach Rauch.
Marten schloss für einen kurzen Moment die Augen. Es kam von oben. Er schnupperte noch einmal, kein Zweifel. Da oben musste jemand sein. Im Rettungsboot? Hatte sich jemand dort versteckt, ein blinder Passagier, genau wie er? Marten wusste, dass die Beiboote noch gestern Abend gründlich kontrolliert worden waren. Schmidt-Katter fürchtete sich vor Sabotage.
Seit diese Umweltschützer ständig Alarm schlugen und heftige Auseinandersetzungen die ganze Region in Rage versetzt hatten, waren die Vertreter der Werft auf der Hut vor den Radikalen. Es gab da so eine Gruppe, die sich ständig für schlauer und besser zu halten schien. Alles studierte Idioten. Als das Dollartsperrwerk gebaut wurde, hatten die es tatsächlich geschafft, die Arbeiten für ein paar Wochen zu unterbrechen, weil so ein blöder Fisch in der Ems, der
Nordseeschnäpel
, angeblich vom Aussterben
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