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Halbmast

Halbmast

Titel: Halbmast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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bereits vorn an der Bugspitze. Er saß etwas schief auf dem Boden, lehnte mit dem Rücken gegen die Bordwand und winkte ihr zu. Carolin schaute auf die Uhr, sie hatte sich um eine Viertelstunde verspätet. Die kühle Aprilnacht machte eher Appetit auf einen heißen Pfefferminztee, und auf der Kapitänsbrücke hatte sie eigentlich genug Alkohol getrunken, trotzdem wollte sie die unverhofft nette Geste ihres Kollegen nicht übergehen. Sie musste über eine kleine Schwelle steigen, aber dieser Ort hier war nicht für Passagiere gedacht und deswegen so unwegsam.
    Leif hatte den Champagner bereits geöffnet, die Flasche war schon zur Hälfte leer. «Da bist du ja!», sagte er langsam.
    «Weiß unser Schatten denn, dass wir hier sind?»
    «Unser Schatten?»
    «Ebba John!»
    «Sie ist schon in der Koje. Seit sechs Uhr ist sie heute auf den Beinen. Sie wäre fast aus den Stöckelschuhen gekippt.» Leif lachte und schenkte das zweite Glas ein, es waren fast die letzten Tropfen aus der Flasche. Hatte er bereits so viel getrunken? «Was machen die Bilder?»
    Carolin überhörte seine Frage. Es war merkwürdig, sie hatte Leif noch nie betrunken erlebt. Nun schleppten sich seine Worte merkwürdig lahm aus seinem Mund, und seinBlick war nicht mehr in der Lage, einen Punkt zu fixieren. Carolin mochte ihn nicht anschauen, es war ihr fast peinlich, den sonst so kontrollierten Kollegen in diesem Zustand zu sehen. Sie suchte nach einem unverfänglichen Thema, dann würde sie das Glas schnell leeren und verschwinden. «Ist dieser Doktor noch aufgetaucht?»
    «Ich glaube nicht. Schon komisch irgendwie.» Er schien nach Worten zu suchen. «Alles ist hier dermaßen akkurat durchgeplant, und dieser böse Perl erscheint einfach nicht zum Champagnerempfang.»
    Leif stand auf, er knickte mit dem einen Bein seitlich weg und hielt sich schlaff am Geländer fest. Die Flasche rutschte aus seinen Händen und fiel auf seinen Fuß. Er jammerte kurz. Als er sich bückte, rutschte sein Diktiergerät aus der Brusttasche und traf ebenfalls die Spitze seines Schuhs. Er liebte dieses Gerät, noch nie war es ihm irgendwo herausgefallen. Jeder in der Redaktion machte sich hinter seinem Rücken lustig über die enge Beziehung, die Leif zu diesem schmalen, grauen Mini-Disc-Recorder pflegte. Carolin hob das Ding auf und reichte es ihm.
    «Ach, behalt es bis morgen. Dann fällt es mir nicht noch einmal auf den Fuß.»
    «Und was ist mit meinem Handy?»
    «Woher soll ich das wissen?»
    «Ich habe es dir vorhin gegeben, du wolltest darauf aufpassen, weil ich keine Tasche dabeihatte.»
    «Komisch, ja, hab ich vergessen.» Er kramte unter seiner Wetterjacke umständlich nach dem Apparat. «Ich fühle es, aber ich komme nicht dran.»
    «Vergiss es, gib es mir morgen!» Es war egal. Wann musste sie schon einmal telefonieren? Im Grunde fühlte sie sich ohne den Apparat viel freier. Der Zustand ihres Kollegen hingegen bereitete ihr Sorgen. «Was ist los mit dir?»
    Er versuchte, ihrem Blick standzuhalten. «Ich habe zu viel getrunken. Merkt man das nicht?»
    «Du säufst doch sonst nicht.»
    «Aber heute!»
    «Warum? Wir haben hier eine verdammt wichtige Reportage zu machen, und du kippst dir den Champagner hinter die Binde.»
    «Morgen bin ich wieder fit!»
    «Hey, wir lichten um sechs Uhr den Anker, das ist nicht viel Zeit, um einen Rausch auszuschlafen und anschließend noch gute Arbeit zu leisten.»
    «Pack ich schon!» Er rieb sich fest die Augen. Seine Schultern hingen schlaff nach unten. Er hätte eine amüsante Erscheinung abgegeben, wären sie jetzt auf einem Betriebsfest gewesen. Doch hier war es unheimlich. Die Angespanntheit und alles, was Leif Minnesang für gewöhnlich ausmachte, waren verschwunden. Hier stand ein kleiner, betrunkener Mittvierziger. Und Carolin bekam es beinahe mit der Angst. Sie leerte das Glas und steckte das Diktiergerät in die Hosentasche. Vielleicht war es tatsächlich besser, wenn sie bis morgen darauf Acht gab.
    «Ist es wegen dieser Ebba?»
    «Nee, Quatsch!»
    «Hast du dich wegen ihr so voll laufen lassen?»
    «Quatsch, habe ich gesagt. Lass mich doch in Ruhe. Ich erzähle dir morgen, was los ist. Das kriege ich jetzt nicht mehr vernünftig   …», er schien sich zu sammeln und zog das nächste Wort voller Konzentration in die Länge: «…   for-mu-liert!»
    Carolin griff nach seinem Arm und half ihm über die Stolperstellen hinweg, bis sie ins Bootsinnere gelangt waren. Er stieß sie von sich, nicht aggressiv, eher trotzig.

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