Halbmast
standen die Leute sprachlos mit ihren Fackeln und Transparenten auf dem Wall. Die Fahrt der
Poseidonna
war zu Ende. Dabei hatte sie noch gar nicht richtig begonnen.
Carolin atmete durch, beinahe automatisch ging die Kamera ans Auge. Sie sah die Bewegungslosigkeit des Momentes, sie sah sie durch den Sucher. Und obwohl alle Bilder still standen, es auf Fotografien keine Bewegungen gab, wusste sie, dass man dieser Aufnahme die Atemlosigkeit und die Leere des Augenblickes ansehen würde.
«Hilf mir, Carolin! Sinclair Bess, er hat sich etwas getan. Er ist gestürzt.» Ebba John lief ihr entgegen. «Bei diesem Stopp ist er die kleine Treppe hinuntergefallen, es ist nichts Schlimmes, aber ich schaffe es nicht, ihn die restlichen Stufenhinabzuschleppen.» Sie schaute ein wenig verlegen: «Sinclair Bess ist nun mal kein Fliegengewicht.»
«Was ist überhaupt passiert?», fragte Carolin, die ihren Schritt beschleunigte.
Ebba John schaute fragend zum Himmel. «Ich habe gleich per Handy auf der Brücke nachgefragt. Sie wissen es auch nicht. Irgendwie ließen sich die Seitenstrahlruder nicht mehr steuern. Kapitän Pasternak hatte die seitlichen Rotoren für den engen Wendekreis im Werfthafen eingesetzt. Und als er dann geradeaus fahren wollte, ließen sich die Dinger nicht mehr abstellen. Aber mehr konnte man noch nicht sagen.»
«Sabotage?» Carolin hatte davon gehört. Schon gestern hatte sie erkannt, dass die Sicherheitsmaßnahmen und Kontrollen wahrscheinlich daher rührten, dass man sich vor Boykottanschlägen der Umweltgruppen fürchtete. Was lag also näher?
Ebba winkte jedoch entschieden ab. «Nein, niemals. Das glaube ich nicht.» So ganz nahm Carolin ihr diese Überzeugung nicht ab. Zu schnell war das «Niemals» gekommen. Ebba lief schneller. «Schau, dahinten liegt er. Sinclair scheint etwas wehleidig zu sein, aber das bleibt bitte unter uns.» Der Amerikaner wischte sich mit einem weißen Taschentuch über das schmerzverzerrte Gesicht. Er hielt sein rechtes Bein ausgestreckt und gab amerikanische Flüche von sich. Ebba John beugte sich zu ihm hinunter und beruhigte ihn in perfektem Amerikanisch. Sie fassten gemeinsam unter seine Arme und wuchteten ihn ein wenig höher.
«Fuck!», fluchte der Millionär.
«Ist der Arzt inzwischen wieder aufgetaucht?», fragte Carolin. Auch für zwei Frauen war der verletzte Koloss eine erhebliche Nummer zu schwer.
«Ich habe ihn angefordert. Aber oben auf der Brückeherrschte helle Aufregung. Ich denke, sie haben gerade andere Probleme. Die Security wird gleich hier sein und uns helfen. Sie wissen von der Verletzung, wahrscheinlich haben sie Doktor Perl schon dabei. Hoffentlich!»
Sie beugte sich wieder zu Sinclair Bess hinunter und streichelte ihm tröstend über das schwarze Haar. «Just one minute, Mr. Bess.»
Doch die beiden kräftigen Männer, die nur wenige Sekunden später die Treppe heraufkamen, hatten keinen Arzt dabei. «Er ist immer noch nicht da», sagte einer von ihnen. Sie halfen Sinclair Bess in die Höhe, stützten ihn von beiden Seiten und trugen den wimmernden Mann vorsichtig die Stufen hinab.
«Aber liebe Fotografin», rief der Verletzte im Fortgehen. «Ich möchte Ihnen mein Baby zeigen. Und wenn ich im, wie heißt es auf Deutsch, Stuhl for invalides …»
«Rollstuhl», antwortete Carolin.
«Well, und wenn ich Sie im Rollstuhl begleite, ich werde Ihnen mein Schiff zeigen. Okay?»
Ebba John und Carolin tauschten Blicke aus. So schlecht konnte es dem Mann also doch nicht gehen.
«Okay, but get better first!», rief Carolin in seine Richtung. Sie freute sich, dass sie ihn zumindest fürs Erste los war.
«Carolin, sicher bist du hungrig. Sobald wir wieder in Fahrt sind, gibt es ein Frühstück oben im Ruderhaus», erinnerte Ebba, bevor sie pflichtbewusst und mit gekonnt besorgtem Gesicht Sinclair Bess’ Krankentransport begleitete.
Carolin blieb stehen. Wie konnte Ebba gerade jetzt an Essen denken? Sie schien den Ernst der Lage wohl nicht ganz zu verstehen oder wollte ihn Carolin gegenüber überspielen. Carolin musste sich erst einmal einen Moment fangen, bevor sie wieder klar denken konnte. Der plötzliche Ruck hatteauch bei ihr einiges durcheinander gebracht. Was wollte sie gerade machen? Das Diktiergerät fiel ihr wieder ein. Und dass sie sich auf die Suche nach Leif machen wollte. Spätestens jetzt, nach diesem seltsamen Unfall, hätte er auf der Bildfläche erscheinen müssen. Vielleicht war er inzwischen auf die Brücke gegangen, um
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