Wir sind Gefangene
VORWORT VON
OSKAR MARIA GRAF
zur ersten Ausgabe nach 1945
Dieses Buch, das nunmehr in der unveränderten Fassung der Erstausgabe vom Jahre 1927 neu erscheint, war für meine ganze literarische Existenz von grundlegender Bedeutung. Bis dahin nämlich hatte ich mir durch ein Bändchen expressionistischer Allerweltsgedichte, einige derbsatirische Bauernskizzen im Simplizissimus und in der Jugend und ein Büchlein ernster Dorfgeschichten, hauptsächlich aber durch mein verwildertes Bohemeleben in München nur eine gewisse Lokalpopularität erworben, die über das Künstlerviertel Schwabing kaum hinausreichte. Im übrigen muß ich offen gestehen, daß ich damals meine Schriftstellerei noch für eine ziemlich fragwürdige Angelegenheit hielt, für eine mühelose Beschäftigung, die sich lediglich aus einem lustvollen Erzählertalent, aus sehr viel Eitelkeit, etlichen originellen Ideen und einem sehr frechen, draufgängerischen Leichtsinn zusammensetzte.
Das wurde mit dem Erscheinen von W ir sind Gefangene mit einem Schlage anders. Das Buch erregte ein ungeheures Aufsehen, wurde in allen Kreisen heftig diskutiert, in der tonangebenden Tagespresse und den seriösen Zeitschriften einhellig bewundert, und in rascher Aufeinanderfolge erschienen englische, französische, spanische und russische Übersetzungen. Außer der stark nachhelfenden Propaganda des Verlages, der ein Plakat mit einem überlebensgroßen Bild von mir und dem Balkentext »Der Autor des Tages - Das Buch des Jahres« in allen deutschen Städten an die Litfaßsäulen kleben ließ, verhalfen aber vor allem die begeisterten, eingehenden Äußerungen so großer Geister wie Romain Rolland, Maxim Gorki, Thomas und Heinrich Mann, Hugo von Hofmannsthal und anderer namhafter Autoren meiner Generation diesem schnellen Ruhm erst zu einer weitausgreifenden Wirkung. Damit war ich gewissermaßen in allen Ehren aufgenommen in unsere große, ernsthafte Literatur, und nicht nur das! »Aus W ir sind Gefangene hallt erstmalig und unüberhörbar der ingrimmige Entsetzensschrei der von Krieg, Nachkrieg und mißratener Revolution enttäuschten Jugend und klagt uns alle an!« hieß es in einer langen Rezension des später in die Tschechoslowakei emigrierten und dort von Hitleragenten ermordeten Theodor Lessing, und ich stand auf einmal - unversehens und ungewollt stellvertretend als Sprecher der Jugend meiner Generation in der vordersten Front der sozialen und geistigen Auseinandersetzungen jener bewegten Jahre.
Wahrhaftig - die reißende Eitelkeit, welche so ein unverhofft leichter Triumph nun einmal erzeugt, ganz weggedacht -, wenn ich mich heute, nach über dreißig Jahren, an meinen damaligen Zustand zurückerinnere, so muß ich zugeben, daß mich all dieses Überrumpelnde ungemein verwirrte, ja, ganz zuinnerst sogar schockierte, denn in all meinem Oberflächenleben beschäftigte ich mich seit langem sehr intensiv mit den Werken und Lehren meines gewaltigen Lehrmeisters Tolstoj, und das war nicht spurlos in mir geblieben. Jetzt auf einmal fing ich an, gründlich über mich und meine Stellung zur Literatur nachzudenken und landete stets bei der bedrängenden Frage: »Für was und für wen schreibt man? Ist der Schriftsteller nur da, um die höchste Sprachmeisterschaft zu erreichen, um mit subtilster Kenntnis der Psychologie irgendwelche Fälle des wirklichen Lebens verständlich zu machen und seine Leserschaft durch die Kunst seines Erzählertums zu faszinieren, oder besteht seine Aufgabe nicht vielmehr darin, mit seinem Schreiben das Unrecht auf der Welt, wo immer es sich auch zeigt, zu bekämpfen, die Menschen für soziale und moralische Einsichten empfänglich und für sich selbst verantwortlich zu machen, jeden Krieg als Verbrechen zu brandmarken, und auf die Gefahr hin, ein Leben lang verkannt und verdächtigt zu werden, stets einer Gesellschaftsordnung das Wort zu reden, in welcher gleiches Recht für jeden gilt und die Freiwilligkeit zur Einordnung in das Ganze schließlich zur sittlichen Regel wird?«
Von da ab wurde mir klar, daß ich nur noch ein Schriftsteller im letzteren Sinn, also zeitlebens ein sogenannter »engagierter« Schriftsteller sein konnte, dessen Talent zugleich eine unabdingbare menschliche und soziale Verpflichtung war. Ganz gewiß nämlich lag in allem Schönen, in jeder Kunst etwas Humanes, aber dieses Humane entzückte und rührte stets nur, zerfloß wieder und blieb ohne tiefergehende Wirkung. Es drang nicht hinein in die Zweideutigkeit des
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