Halbmast
schien über eine Verschnaufpause alles andere als verärgert zu sein. Wenn sie mit ihm eine Schiffsbegehung machen sollte, so wäre die
Poseidonna
bereits in Eemshaven eingelaufen, wenn sie erst die Hälfte gesehen hätten. Seine Kondition schien nicht die beste zu sein, aber wenn man als Lieblingsbeschäftigung Schlafen und Essen angab und zudem ständig dicke Zigarren im Mundwinkel hatte, waren schließlich keine sportlichen Höchstleistungen zu erwarten.
«Die Security hat angerufen. Leif ist nicht in seinem Zimmer!» Ebba schien wirklich aufgeregt zu sein. Carolin sah die in die Höhe gezogenen Augenbrauen, die feinen Falten auf der Stirn, den halboffenen Mund.
«Dann ist er schon unterwegs.»
«Seine Kabine stand offen. Doch Leifs Wetterjacke hat noch an der Garderobe gehangen, und seine Notizblöcke lagen auf dem Tisch.»
Das war seltsam, es gab dafür keine plausible Erklärung, außer, dass Leif sich immer noch in einem Zustand geistiger Umnachtung befand und sich vielleicht verlaufen hatte. Doch so durcheinander konnte er gar nicht sein, und um nichts in der Welt würde er sich einen Moment wie diesen entgehen lassen! Das Schiff schob sich rückwärts aus dem Hafenbecken in Richtung Fluss. Ein beachtliches Schauspiel. Niemand würde gerade jetzt auf die Idee kommen, seinen Rausch an einem versteckten Ort auszukurieren. Wahrscheinlich war er nur überstürzt aus der Kabine gehetzt, ohne die Sachen mitzunehmen, weil er es eilig hatte. Und dann?
«Ich rufe ihn auf dem Handy an», kam Carolin die Idee.
«Auf diesen Gedanken bin ich schon längst gekommen. Ich habe ihn bereits angerufen. Doch sein Handy liegt ebenfalls noch in der Kabine. Als ich anrief, ging einer der Securitymänner an den Apparat.»
«Wir könnten auf meiner Nummer anrufen. Er hat sich mein Handy gestern ins Jackett gesteckt. Vielleicht ist es noch immer dort.»
Ebba reichte ihr den Apparat, und Carolin konzentrierte sich, um die eigene, ellenlange Nummer einzutippen. Ein Freizeichen ertönte. Carolin nickte Ebba zu. Sicher würde sich gleich ein zerstreuter Leif melden, vorausgesetzt, er fand den richtigen Knopf auf ihrem Telefon. Doch nichts geschah. Nach kurzer Zeit meldete sich die Mobilbox. Carolin legte schulterzuckend auf und gab Ebba den Apparat zurück.
«Das ist wirklich merkwürdig», sagte sie nur. Doch im Kopf schienen sich die Gedanken zu überholen. Leif würde sicher bald auftauchen. Hatte er nicht etwas von einem wichtigen Termin gesagt? Um halb neun, so war es, und jetzt war es Viertel vor acht. Sicher kam er bald. Und wennnicht? Dann müsste sie ihn suchen. Dieses Schiff war unterwegs, die Verbindung zum Ufer war gekappt, er konnte sich also nur irgendwo hier an Bord aufhalten. Aber wo? Und wer machte nun seinen Job? Wer fing diesen Augenblick ein, wenn das Schiff seinen ersten Kilometer wie auf Zehenspitzen durch den Fluss fuhr? Warum auch immer er nicht auftauchte, eines stand fest: Er brachte den ganzen Auftrag in Gefahr.
Solange Leif nicht da war, musste sie selbst nach Worten und Begriffen suchen, die die Stimmung der ersten Passage einfingen. Hier lag nicht ihr Talent, wirklich nicht. Sie wusste nur wenig darüber, wie Leif und seine Kollegen arbeiteten. Doch bevor alles für die Katz war, würde sie sich einige Notizen machen.
Carolin ging weiter. Gleich würde die
Poseidonna
den letzten Schwenker aus dem Hafenbecken heraus gemacht haben. Sie drehte sich nun um die eigene Achse, um schließlich in die Gerade zu gehen. Und dann wollte sie ein Foto schießen. Wenn der Weg vor ihnen lag. Sie durfte nichts verpassen. Sobald die Aufnahme im Kasten war, würde sie mit dem Suchen beginnen.
Ebba John und Sinclair Bess blieben, wo sie waren, sie schauten Carolin nur hinterher. «Bin gleich wieder da», rief sie ihnen zu, dann rannte sie zum Heck.
Da war er, der Blick, auf den sie gewartet hatte.
Die Werft lag am südlichen Ende der Stadt. Sie hatten den Industriehafen und somit auch die letzten Gebäude hinter sich gelassen, vor ihnen lag nur das eiserne Tor, welches den Werftbereich markierte und den Wasserstand zwischen Hafen und Fluss ausglich. Die massiven Pforten, die im geschlossenen Zustand für den Lieferverkehr befahrbar waren, waren nun weit geöffnet. Und dahinter, wartend, die enge Leda. Und das flache Land. Carolin war erst einmal ander ostfriesischen Küste gewesen. Von Hamburg aus war sie schneller an der Ostsee oder auf Sylt. Nur beruflich war sie schon einmal hierher gefahren. Als sie damals das
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