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Halbmast

Halbmast

Titel: Halbmast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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Doch sie sah aus wie ein verängstigtes kleines Mädchen. Niemand nahm sie ernst.
    «Das hat Ihnen nicht egal zu sein, Frau Wie-immer-Sie-auch-heißen!», sagte Pasternak, und er erhob seine Stimme in keiner Weise, sprach weder auffällig langsam noch hektisch schnell, sondern rührte in seiner Teetasse und wirkte so unerschütterlich wie der Eisblock, der der unsinkbaren
Titanic
den Todesstoß versetzt hatte. «Ich bin hier der Kapitän, Herr Schmidt-Katter ist der Werftleiter, und wir sind uns beide einig, dass wir die Passage ohne Unterbrechung durchziehen, um das Beste im Interesse des Schiffes zu tun. Und nur weil Sie von Bord wollen, werden wir keine neunzigtausend Bruttoregistertonnen stoppen, Mademoiselle!»
    «Aber wir müssen doch sowieso jemanden an Bord lassen, wegen des Todesfalls. Dann werde ich die Gelegenheit ergreifen und   …»
    «Nichts werden Sie tun! Wir fahren weiter nonstop bis nach Eemshaven, dort können Sie heute Abend an Land gehen. Und so lange reißen Sie sich bitte zusammen. Lassen Sie uns unseren Job machen und machen Sie den Ihren.»
    «Wie denn, ohne Kamera?»
    «Aber Mädchen, Sie haben doch mit Sicherheit eine Ersatzkamera dabei. Das kann doch wohl nicht wahr sein!» Er lächelte abschätzig und nahm einen Schluck Tee.
    Sie wollte etwas sagen. Marten konnte der jungen Frau ansehen, dass sie gleich explodierte. «Sie wissen doch ganz genau   …», dann biss sie sich auf die Unterlippe, man sah sofort, dass sie sich fast verplappert hätte, womit auch immer. Obwohl sie gerade wütend war, machte sie einen sympathischen Eindruck. Schon gestern Abend, als Marten ihr auf der Zwischentreppe begegnet war, hatte sie ihm irgendwie gefallen. Als Frau nicht sein Typ, aber als Mensch.
    «Was weiß ich ganz genau?», erwiderte Pasternak, stellte allerdings betont desinteressiert die Tasse zur Seite, nahm ein Fernglas in die Hand und wandte sich an seinen Steuermann, einen blassen, mageren Kerl, der besser hinter einen Bürotisch als hinter ein Schiffssteuer gepasst hätte: «Mackenstedt, etwas steuerbord, sehen Sie nicht? Wir müssen mit leichter Schräglage auf die Brückenöffnung zu, sonst drückt uns der Wind gegen den Pfeiler.»
    Der Jüngling schwitzte, und Pasternak nahm ihm den Joystick aus der Hand. Dann, als sei ihm erst in diesem Moment wieder die aufsässige Fotografin eingefallen: «Nun, was weiß ich denn ganz genau?»
    «Wenn Sie die ganze Zeit rückwärts fahren, wo ist dann eigentlich steuerbord? In Fahrtrichtung rechts oder in Bootsrichtung?»
    Marten merkte sofort, dass diese Frage nur der Ablenkung diente. In Wirklichkeit hatte die Frau etwas anderes feststellen wollen. Die anderen Männer waren sicherlich auch nicht so dumm, dieses Manöver nicht zu durchschauen, doch sie ignorierten die Frage der Fotografin einfach und lachten ein wenig über ihre Einfältigkeit.
    «Okay, Mackenstedt, weiter rechts.» Pasternak wandte sich nun der jungen Frau zu: «Wie ich Ihnen schon sagte, lassen Sie uns unseren Job machen und machen Sie den Ihren. Wenn Sie uns nun bitte in Ruhe arbeiten ließen, wäre ich Ihnen sehr verbunden.»

Carolin
    Nun, jetzt konnte sie sich ja aus dem Raum entfernen nach dieser freundlichen Aufforderung – und Niederlage.
    Es war nur eine scheinbare Niederlage, denn in Wahrheit diente ihr hysterischer Auftritt einem Täuschungszweck. Und das war ihr offensichtlich gelungen. Die Herrschaften hier oben sollten ruhig glauben, dass sie verängstigt und kleinlaut war. Nur so würde es ihr gelingen, unauffällig weiter nach der Wahrheit zu suchen. Und nach Leif. Die Behauptung von Schmidt-Katter, sie hätte die Kameraim Atrium fallen gelassen, machten ihr deutlich, dass diese Mannschaft hier sie für dumm verkaufen wollte. Nun, sollten sie doch glauben, dass es ihnen gelungen war. Sobald sie sich ohne Aufsehen von hier verabschieden konnte, wollte sie wieder auf Deck Nummer 5, in den Flur, durch den eben der zugedeckte Körper geschoben worden war. Sie würde vorschieben, sich noch ein wenig in Ebba Johns Obhut zu begeben, und dann würde sie hinter alle Türen schauen, an denen sie auf ihrem Weg zur Krankenstation vorbeikam. Nur wenn sie sie für harmlos hielten, brachte sie sich selbst für einen Moment in Sicherheit.
    Nachdem Pasternak ihr verbal den Hintern versohlt hatte, hatten sich alle Augen von ihr abgewandt und starrten nach draußen. Zugegeben, der Blick in Fahrtrichtung war sicherlich beeindruckender als ihr gekonnt weinerlicher Auftritt gerade eben.

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