Halbmast
es im Inneren der Kabine einen Zweitschlüssel? Oder hatte jemand von außen die Tür geöffnet?
Es dauerte ein paar Atemzüge, bis sie den Mut fand, weiterzugehen. Erst schimmerte ihr nur dieses Apricot entgegen, ganz harmlos und kitschig, als schiene die Sonne inihrem Schlafgemach. Doch dort schien keine Sonne. Im Gegenteil, dort herrschte ein Durcheinander, ein so stürmisches Chaos, als wäre ein Orkan durch die wenigen Quadratmeter gewirbelt.
Carolin blieb stehen. Sie brauchte nicht genauer nachzusehen. Dass Pieter nicht mehr da war, konnte man auf den ersten Blick ausmachen. Dass ihre Ersatzkamera und die bislang vollen Filme wahrscheinlich ebenfalls nicht mehr aufzufinden sein würden, war auch ohne weiteres zu erkennen, der Apparat und der andere Kram hatten auf dem Sekretär gelegen. Sie hatten ihre Kabine durchsucht. Also stand sie bereits unter Beobachtung. Aber warum hatten sie sich so auffällig benommen? Warum hatten Sie sich nicht bemüht, die Sache etwas diskreter zu handhaben? Die Tatsache, dass man Interesse an ihren Sachen und aller Wahrscheinlichkeit nach auch an dem nicht auffindbaren Diktiergerät hatte, war beängstigend. Vielleicht war dies sogar beabsichtigt. Sie sollte sich fürchten. Sie spekulierten vielleicht darauf, dass sie sich Hilfe suchend an Ebba wandte und dort eingeschüchtert das preisgab, was sie bislang herausgefunden hatte.
Zudem hatten sie sicher Pieter entdeckt, oder …
Oder es war genau anders und sie hatte sich in Pieter getäuscht? Vielleicht war er es gewesen, der die Sachen hier durchwühlt hatte. War das nicht vielleicht sogar wesentlich wahrscheinlicher?
Hatte Pieter nicht angedeutet, dass er mehr geplant hatte als nur diese Manipulation der Elektronik? Carolin erinnerte sich, dass sie ihm ein Versprechen entlockt hatte, dass kein Mensch zu Schaden kommen würde. Aber hatte er dieses Versprechen nicht sehr halbherzig ausgesprochen? Weil er ihr Vertrauen gewinnen wollte, weil er wissen wollte, was sie wusste, weil er sie … wahrscheinlich verarscht hatte, ohne mit der Wimper zu zucken. Und sie hatte ihn nochso treudoof in ihre Kabine gelassen, wo er natürlich ihre Sachen durchwühlt und die Kamera plus Filme mitgenommen hatte. Wahrscheinlich wollte er nicht das Risiko eingehen, dass sie vielleicht doch Aufnahmen von ihm gemacht hatte, und für einen Laien sahen ihre beiden Apparate nahezu identisch aus. War Pieter falsch? Hatte sie sich in ihm getäuscht?
Sie ließ sich auf der Bettkante nieder. Ihr war elend zumute. Im Seesack fand sie ein frisches Hemd und eine saubere Hose. Sie fischte das Diktiergerät aus der abgelegten Hose und steckte es ein. Das zumindest hatte er nicht mitnehmen können.
Wenn Pieter wirklich ein anderer war als der, für den sie ihn bislang gehalten hatte, was hatte es für Konsequenzen? Wolfgang Grees war in die Tiefe gestürzt. Hatte ihn jemand gestoßen? Jemand, dem der Mechaniker ein Dorn im Auge gewesen war. Jemand, der sich von Wolfgang Grees in irgendeiner Weise behindert gefühlt hatte. Und wer sollte dieser Jemand gewesen sein, wenn nicht Pieter?
Es war so einleuchtend. So deutlich: Pieter hatte den Mechaniker aus dem Weg geräumt, um bei seinen weiteren Sabotageakten bessere Chancen zu haben. Oder er war von Wolfgang Grees bei weiteren Vorbereitungen erwischt worden. Gab es noch eine andere Erklärung?
Was war, wenn Pieter etwas mit Leifs Verschwinden zu tun hatte? Vielleicht war Minnesang ihm genauso begegnet wie sie. Und er hatte sich nicht so leicht um den Finger wickeln lassen. Da hatte es für Pieter keine andere Möglichkeit gegeben, als Leif aus dem Weg zu räumen.
Es passte schrecklich gut. Carolin stellte sich aufrecht hin, obwohl ihr eher danach zumute war, sich auf dem Bett zusammenzurollen und den Kopf in den Armen zu vergraben. Was sollte sie tun? Wem konnte sie trauen?
Es war kurz vor elf. Ihr Blick aus dem Fenster verriet, dass sie sich bereits wieder in Fahrt geradeaus befanden. Die Leda lag hinter ihnen, die lange Passage auf der Ems voraus. Wenigstens war nun die Position des Schiffes eindeutig auszumachen.
Carolin wusste jedoch in keiner Weise, an welcher Stelle sie selbst gerade stand. Sie hatte nichts mehr in der Hand. Die Filme waren verschwunden. Alle Aufnahmen sonst wo. Und keine Kamera. Blind.
Nur ein Diktiergerät in der Hosentasche. Wenigstens nicht stumm.
Pieter
Als diese Leute vorhin in die Kabine gestürzt waren, hatte er es zum Glück noch knapp hinter die Tür geschafft. Mit
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