Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Halbmast

Halbmast

Titel: Halbmast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
Vom Netzwerk:
war eine der wenigen Personen, die er nicht mit seiner Art für sich einzunehmen vermochte. Und gerade das reizte ihn besonders. Doch sie waren nicht hier, um ihre Familienkämpfe auszufechten.
    Der Wind blies einen kühlen Schwall Regenwasser durch die oberen Treppenstufen, hässliche Tropfen landeten auf der dunkelblauen Schulter ihres Kostüms. Was sollten sie machen? Sie hätte ihm wirklich nicht begegnen dürfen. Obwohl er wusste, dass er ihren Verrat nicht zu fürchten hatte, weil sie sich damit selbst in den Dreck reiten würde. Aber er durfte sie nicht an seiner Seite haben, wenn er Carolin wieder fand. Carolin und Ebba kannten sich ja bereits. Seine Tante war für den reibungslosen Ablauf dieser Fahrt zuständig. Und wenn, wie in diesem Fall, alles in die Hose ging, so war sie dafür verantwortlich, dass die Journalisten trotzdem von einer makellosen Schiffsüberführung berichteten. Vor ein paar Wochen hatte ausgerechnet Ebba ihm davon erzählt, dass zwei Leute vom
Objektiv
bei der Überführung dabei wären. Ein Redakteur namens Leif Minnesang, ein alter Bekannter von ihr, anscheinend sogar eine verflossene Liebe. Und eine gewisse Carolin Spinnaker.
    Pieter hatte desinteressiert geschaut. Doch Carolins Namen hatte er bereits gekannt. Und ihre Fotografien. Nicht nur das Bild mit dem traurigen Mädchen. Auch wenn diese Aufnahme eindeutig ihre bekannteste war. Doch die Bilder, die darauf folgten, hatten dieselbe, wenn nicht sogar eine weit überragendere Qualität. Sie hatte den Frühling in den kanadischen Bergen eingefangen, den Sommer in Berlin, den Herbst an der Mecklenburgischen Seenplatte und denWinter in St.   Petersburg. Es gab ein Bild von einem alten Mann in schwarzen Klamotten, der eine scheinbar endlose Bahnstrecke abschritt, mit hängendem Kopf und den Händen in den Taschen. Es war einer der Demonstranten aus dem Wendland, mit dem Pieter schon vor Jahren gegen die Atommüllentsorgung protestiert hatte. Die Aufnahme musste beim letzten Castortransport gemacht worden sein, wo auf einmal kein Mensch mehr demonstrierte, wo kaum noch Presse auflief, wo alles lahm gelegt war von Kapitulation und Gleichgültigkeit. Er liebte dieses Bild, hatte es aus dem
Objektiv
gerissen und an die Zimmerwand gepinnt, als er noch keine Ahnung davon hatte, dass er Carolin einmal persönlich kennen lernen würde.
    Er stellte sie sich vor als mutig, als gewissermaßen abgebrüht, mit einem überaus wachen Blick. Sie musste schon alles gesehen haben, und deswegen war sie die Richtige. Damit endlich verstanden wurde, was wichtig war. Das Loch im Deichfuß von Coldeborgersiel war nur eines von vielen Alarmzeichen, die zugunsten der Schmidt-Katter-Werft übersehen wurden. Er wusste von krank machenden Mikroorganismen, die sich im Brackwasser der Flussmündung breit machten. Biologen hatten ihre Bedenken geäußert. Seine Gruppe hatte die Presse alarmiert. Trotzdem schaute niemand hin.
    Doch Pieter wusste, wenn Carolin fotografierte, dann konnten die Menschen sich nicht abwenden. Ihre Bilder hafteten sich an die Blicke der Betrachter. Sie hatten eine Sogwirkung. Dort, wo er seine Überzeugungskraft nicht mehr anwenden konnte, würden ihre Bilder eine Wirkung erzielen. Deshalb hatte er sich an Bord geschlichen. Damit er mit Carolin Kontakt aufnehmen konnte, und zwar im entscheidenden Moment und nicht erst, wenn die Fahrt und die Störungen schon vorbei waren. Die ganze Gruppehoffte darauf, dass er Carolin dazu bringen würde, mit ihren Fotos die Wahrheit für alle sichtbar zu machen. Dass der hitzige Leif Minnesang mit einem Mal verschwunden war, hatte ihm einen gewaltigen Vorteil verschafft.
    «Gehen wir rein!», befahl Ebba und zog ihn im selben Augenblick durch die Glastür in einen Raum, den er erst auf den zweiten Blick als das noch nicht ganz eingerichtete Fastfood-Restaurant erkannte. Immerhin waren die Wände schon mit gewaltigen Hamburgern bemalt, die Augen aus Gurkenscheiben hatten und Baseballcaps trugen, daneben tanzten schlanke Pommes mit Sonnenbrille und Coke in der Hand. Die runden Metalltische waren auf dem Granitboden befestigt. Es gab sicher hundert davon, auf mehreren Ebenen, teils mit blauen, roten und weißen Lederbänken darum. Die Decke war mit Stars and Stripes verunstaltet. Sehr hässlich, fand Pieter, sicher würde dieser Schuppen von morgens bis abends voll gestopft sein mit lauten, fressenden Amerikanern.
    Ebba zog ihn in eine Ecke, die durch eine gewaltige Coladosensäule verdeckt wurde und so

Weitere Kostenlose Bücher