Halbmast
Übersicht, und er wusste, dass Carolin gern nach draußen ging, um zu fotografieren. Auch wenn es inzwischen kalt und stürmisch geworden war. Aber wo sollte er noch suchen?
Er wählte den Abgang entlang der Bordaußenseite. Heftige Böen wehten ihm entgegen. Er fand den Regen auf der Haut angenehm, die Kälte des Windes tat ihm gut. Sie blies die Müdigkeit weg. Er atmete durch.
Sie kamen an die Stelle, an der die Ems die Autobahn überquert. Schon von weitem konnte man die Schlangen aus roten und weißen Lichtern sehen. Links und rechts der Unterführung standen die Wagen, einige hupten schon jetzt, obwohl es noch ein kurzes Stück war, bis das Schiff tatsächlich die A31 passierte. Die Strecke zwischen den Ausfahrten Leer Nord und Weener war dicht, jeder wollte gern im Schutz seines Autos in der Nähe des Emstunnels sein, wenn die
Poseidonna
über die Wasserbrücke fuhr. Trotzdes energischen Regens wagten sich auch Fußgänger an die Stelle. Mit Schirmen bewaffnet, die sich im Sturm nach außen bogen, unter Planen oder einfach klatschnass geregnet. Sie standen dort und warteten.
Pieter brauchte sich nicht zu ducken, hier würde ihn keiner sehen, von Land aus konnte man nicht durch das feinmaschige Geländer der Feuertreppe schauen. Ansonsten hielt sich beim aufkommenden Sturm außer ihm wohl kaum ein Mensch hier draußen auf. Er stieg weiter unbehelligt hinab.
Bis sie auf einmal vor ihm stand. Die eine Augenbraue nach oben gezogen, diesen gewohnt abschätzigen Blick auf ihn gerichtet, dem er in den letzten Jahren ihres Zusammenlebens so oft standhalten musste. Als die blonden Haare sich aus ihrer adretten Frisur lösten, hielt sie mit den blassen Händen die Strähnen aus dem Gesicht.
Er kannte die Gesten seiner Tante zur Genüge.
«Es war Vaters Bulli, nicht wahr?»
Sie hätte ihm nicht begegnen dürfen. Die Feuerleiter war eine eindeutige Fehlentscheidung gewesen.
«Du hast den Wagen in die Ems gefahren, statt einmal das zu tun, was ich von dir erwartet habe. Hatte ich nicht gesagt, du sollst die alte Karre endlich mal zum Schrottplatz bringen? Ich hätte es mir ja denken können.» Ebba John rührte sich nicht, doch er merkte ihr an, dass sie sich nur mit Mühe zügelte. Er erkannte es an ihren Händen, die sich zu einer Faust ballten. Sie würde ihm manchmal gern die Leviten lesen.
Ihr Verhältnis hatte nie unter einem guten Stern gestanden. Sie war die Schwester seiner verstorbenen Mutter und hatte sich, nachdem die Großeltern zu alt geworden waren, um ihn kümmern müssen. Sie beide waren so grundverschieden, wie man nur sein konnte, doch die Großelternhatten nach ihrem Tod das Haus am Deich beiden zu gleichen Teilen vermacht, und so lebte Pieter seit Jahren schon mit einer Person unter einem Dach, die er nicht ausstehen konnte.
«Du bist ein solcher Idiot, Pieter!»
«Reg dich ab. Kein Mensch wird dich mit der Sabotage in Verbindung bringen, Ebba. Ich habe es geschickt angestellt.»
«Wenn es rauskommt, dann fliege ich im hohen Bogen. Hast du mal einen Moment darüber nachgedacht, dass es mich meinen Job kostet, wenn ausgerechnet ich dem blinden Passagier meine Referenzen erteilt habe? Ich habe mich bei dem Tischlerunternehmen dafür eingesetzt, dass du endlich mal eine vernünftige Arbeit findest. Und das ist weiß Gott ein Canossagang gewesen!»
So machte sie es immer. Wenn er nicht so funktionierte, wie sie es gern hätte, dann kramte sie sein Leben wie ein Wollknäuel aus und machte ihn auf die Knoten aufmerksam. Sie konnte nicht verstehen, dass es auch Menschen gab, die sich kein aalglattes Leben wünschten. Wie oft hatten sie schon darüber diskutiert. Und wie oft schon hatte er sich ihre ewig gleichen Argumente anhören müssen.
«Pieter, wenn ich damals nicht für dich da gewesen wäre, dann hättest du niemanden gehabt. Nur weil ich gesagt habe: Okay, der Junge bleibt bei mir, ich werfe ein Auge auf ihn, nur deshalb konntest du damals im Haus bleiben. Ist dir das eigentlich klar?»
«Tausend Dank auch, liebe Tante. Und bevor du weiterredest: Ja, ich weiß, wie viel du damals für mich aufgegeben hast. Deine tolle Karriere bei der Lufthansa, dein Erfolg versprechendes Studium, alles zu Ende wegen deines Neffen, der sich ständig in Sachen reinhängt, die ihn nichts angehen.»
Sie war sauer. Er kannte es. Manchmal würde sie ihn gern ein wenig erziehen. Daran hatte sich in all den Jahren nichts geändert. Manchmal mochte er diese gebändigte Wut seiner Tante sogar ein bisschen. Sie
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