Halbmast
und Beine waren mit stabilem Band eng an den Körper geschnürt. Warum hatte der Schweißerdas getan? Obwohl natürlich niemand damit hatte rechnen können, dass die Ballasttanks geflutet werden würden, hatte der Fremde eine schreckliche Tat begangen. Auch ohne das einströmende Wasser musste es in dieser Dunkelheit hier drinnen die Hölle sein.
«S-sagen Sie mir, wer S-sie sind?»
«Wir kennen uns nicht, Herr Perl», sagte Carolin. Wieder schluckte sie bei jedem Wort viel zu viel Wasser. Sie musste die Kraft einteilen. Wenn sie es beide die gut dreißig Meter weiter bis zur Leiter schaffen wollten, dann musste sie jetzt die Klappe halten. Ihre Kraft war in diesem Moment kostbar, alles hing daran, dass sie nicht versagte.
«Retten Sie mich …»
Man konnte nicht ausmachen, ob dieser Satz als Frage oder Aufforderung gedacht war. «Alles okay!», versuchte sie ihn zu beruhigen. Sie konnte ein wenig besser stehen, wenn sie eng am gebogenen Schiffsrumpf entlangglitt. Herr Perl, der ein gutes Stück größer als sie sein musste, bewegte sich auf eigentümliche Weise vorwärts. Sie unterstützte seine hilflosen Sprünge, indem sie seinen Rücken von hinten anschob. Es ging recht gut. Es kostete viel Kraft, aber sie kamen voran. Carolins Orientierungssinn sagte ihr, dass sie sich nun ins Rauminnere bewegen mussten, wenn sie die Leiter zu fassen bekommen wollten. Doch konnte sie sich darauf verlassen? Rechts und links, oben und unten, normalerweise für Carolin nicht zu fassen, nicht zu begreifen, und nun sagte ihr eine unerklärliche innere Stimme, wohin sie sich mitten in der Dunkelheit wenden sollte. Sie konnte der Intuition nicht trauen. Es war jenseits jeglicher Vernunft. Sie hatte nichts als ein paar ungezählte Schritte in der Dunkelheit, an denen sie erkennen konnte, dass sie sich nun an der richtigen Stelle befanden. Das war viel zu wenig, um sicher zu sein. Und doch drehte Carolin sichnach rechts, stieß Doktor Perl voran, schwamm ein paar Züge geradeaus, griff in die Dunkelheit. Und fühlte die Leiter.
Er brauchte sehr lange, um sich zu beruhigen. Carolin hatte erstaunlich schnell zu einem gleichmäßigen Atmen und klaren Verstand zurück gefunden. Aber Perl hatte erst eine ganze Weile nur eine Art Gemurmel von sich gegeben. Nachdem sie ihm die Fesseln an Armen und Beinen abgenommen hatte, versuchte er in seiner Panik, nach ihr zu greifen. Zum Glück hatte er nicht mehr allzu viel Kraft. Carolin packte seine Hände, drehte sie kurz nach hinten und erklärte dann langsam und eindringlich, dass ein ihr fremder Schweißer den Hinweis auf seinen Verbleib geliefert hatte und sie aus der Not heraus selbst nachgeschaut hatte. Mehrmals musste sie ihm in langsamen Sätzen erzählen, wer sie war. Dann schöpfte er Vertrauen. Sie kletterte ganz nach oben, hockte mit gebeugtem Kopf direkt an der Luke, damit er noch Platz fand, sich unter ihr an der Leiter zu halten. Carolins Kleidung war nass, und das Wasser tropfte auf den Arzt hinab. Sie hatte das Gefühl, dass der voll gesogene Stoff auf ihrer Haut sie kiloschwer nach unten zog.
«Sicher kommt gleich jemand. Sie kontrollieren bestimmt den Tank. Wahrscheinlich haben sie gerade ziemlich viel zu tun, wissen Sie, die Meteorologen haben schlechtes Wetter vorausgesagt, einen plötzlichen Sturm. Ich denke, die Mannschaft hat alle Hände voll zu tun, diesen Pott hier Richtung Eemshaven zu lenken. Aber dann kommen sie sicher!» Carolin beruhigte nicht nur den zitternden Mann unter sich. Auch für sie selbst waren die laut ausgesprochenen Worte ein Stück Hoffnung.
«Dieser Mann», Perl atmete noch immer schwer. Erschien eigentlich eine gute Kondition zu haben. Schlank und muskulös war er, noch nicht alt, vielleicht Mitte vierzig. Sie hatte ihn nur kurz gesehen, vorhin im Schein der Fackel, und als sie ihm die Fesseln gelöst hatte, hatte sie seinen durchtrainierten Körper gefühlt. «Dieser Mann, der Ihnen gesagt hat, dass ich hier unten stecke, sagen Sie, kannten Sie ihn?»
«Nein», antwortete Carolin schlicht. Es war Zeit, dass er mit dem Reden begann. Sie war jetzt müde. Sie war jetzt fertig. Er sollte erzählen und erzählen, was auch immer, aber sie wollte nicht mehr.
«Sie sagten, er war groß und kräftig, er hatte blondes Haar.»
«Ja.»
«Wissen Sie, ich konnte mir keinen Reim darauf machen, wer er ist und was er von mir will.» Er keuchte noch etwas, während er redete. Doch es schien ihm wichtig zu sein, seine Gedanken auszusprechen. «Ich bin
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