Halbmast
markanten Gesichtszüge unter den dunklen Augenbrauen ein wenig bekannt vor. Sie hatte ihn schon mal einen flüchtigen Moment gesehen. Ein südländischer Typ im grauen Overall. Es war der Fensterputzer, der sich ihr gestern Abend beim Empfang vor die Linse geschoben hatte, als sie dabei war, die Werft zu fotografieren.
Dankbar fasste sie seine Hand und stieg nach oben.
Doktor Perl folgte ihr.
Marten
Nichts passierte, nichts.
Marten stand an einer geschützten Stelle neben dem Pool an Deck. Hier würden in ein paar Wochen die Animateure für die Gäste tanzen und singen. Es regnete inzwischen wie aus Eimern. Der blaugrüne Boden des riesigen Schwimmbeckens stand bereits millimetertief unter Wasser. Die
Poseidonna
nutzte die wenigen Meter Bewegungsfreiheit im Fluss und schwankte, vom Wind angestoßen, fast wie auf offener See. Der Kapitän und seine Mannschaft hatten sicher Probleme genug. Doch warum passierte nichts?
Die Fotografin hätte schon längst etwas unternehmen müssen. Sie hätte schon längst hier bei ihm sein müssen, um sich ihre ersehnten Informationen über den Verbleib desJournalisten geben zu lassen. Zugegebenermaßen wusste er nicht viel über dessen Aufenthaltsort, seine Versprechungen waren recht hochtrabend gewesen. Eigentlich hatte er doch nur mit angehört, wie der Sicherheitsmann in den Telefonhörer geraunt hatte, dass man den Reporter umbetten sollte, weil Grees angeliefert wurde. Er vermutete, dass sich das Ganze auf Deck 5 in der Nähe der Krankenstation abspielte. Aber er vermutete nur.
Es war inzwischen Nachmittag. Und weder die Fotografin noch Doktor Perl waren hier am Treffpunkt aufgetaucht. Da musste etwas schief gegangen sein.
Vor ihnen lag im Regen die enge Flusskurve am Midlumer Sand. Hier standen nicht so viele Menschen auf dem Deich. Die wenigen verkrochen sich unter Planen oder stellten sich weiter hinten unter die windschiefen Bäume. Es war einfach zu nass und stürmisch. Das vom Sperrwerk gestaute Wasser stand höher als die grünen Wiesen an der anderen Seite des Walles. Manche Anwohner dieser Orte fürchteten sich vor den Überführungen. Vielleicht hielten sie größtenteils ihre Klappe, weil viele von ihnen selbst bei Schmidt-Katter arbeiteten und sie wussten, dass es anders nicht ging. Doch sie hatten Angst, dass der alte Deich die Wassermassen nicht mehr halten konnte und dann ihre Heimat, ihre kleinen Höfe aus rotem Backstein und die umliegenden Felder in Minutenschnelle überflutet wurden.
Marten lehnte mit dem Rücken gegen die Wand des Schiffes. Die Menschen konnten ihn sehen. Einige winkten ihm zu, wahrscheinlich dachten sie, dass er ein wichtiger Mensch war, ein maßgeblich am Bau des Schiffes beteiligter Held. Er winkte nicht zurück.
Wenn Svetlana noch leben würde, wo hätten sie in diesem Moment gestanden?
Akribisch hatte er die letzten Tage von Svetlanas Leben aufgerollt. Von dem Moment an, als er sie am Mittwochabend zur Haustür gebracht, bis zu dem Augenblick zwei Tage später, als er zu spät an ihrem Bett gestanden hatte. Diese Zeitspanne hatte er Minute für Minute auseinander gepflückt. Und am Ende seiner Forschungen hatte er vor Dr. Perls Haus gestanden und einen Plan gemacht, wie er diesen Mann bestrafen wollte.
Svetlanas Freunde und Verwandte hatten aufgrund seiner Beharrlichkeit nach und nach Auskunft gegeben. Nur ihr Vater, Robert Adamek, hatte sich bis zum heutigen Tag geweigert, Marten bei seinen Nachforschungen zu unterstützen. Wahrscheinlich wollte er den Tod der Tochter verdrängen. Das war verständlich. Vielleicht hatte der arme Kerl auch ein schlechtes Gewissen, weil er viel zu lange geglaubt hatte, die Leute von der Schmidt-Katter-Werft würden sich an ihre Versprechungen halten.
Marten hatte sich von einem Mitbewohner aus der Mörkenstraße die Kopie der Telefonliste aus Svetlanas Wohngemeinschaft geben lassen. Aus ihr ging hervor, dass Adamek am Donnerstagnachmittag gegen halb vier eine Nummer in Leer angerufen hatte. Nur ein kurzes Gespräch, eine Einheit. Dafür erfolgte aber nach einer halben Stunde das nächste Telefonat zum selben Anschluss. Wieder weniger als zwanzig Sekunden. Marten erkannte die Ziffern, die ersten drei Zahlen standen für die Schmidt-Katter-Werft, die letzten drei waren eine Durchwahl. Er rief dort an. So fand er heraus, dass an dem Tag, der Svetlanas ersten Magenkrämpfen folgte, Robert Adamek im Personalbüro angerufen hatte.
Marten wusste, dass Svetlana und ihre Familie für die Firma
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