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Halbmast

Halbmast

Titel: Halbmast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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das Licht entzünden. Noch einmal einen Blick auf den Raum werfen, in dem sie so plötzlich gefangen war, eingesperrt, und zwar bewusst eingesperrt. Hier hatte ihr jemand mit Absicht den Weg nach oben verschlossen. Und dahinten schwamm etwas Weißes imWasser. Vielleicht war dort Doktor Perl? Die Versuchung war groß, einfach den Zeigefinger in die Öse, einen kleinen Ruck, und sie konnte alles überschauen. Doch dann, nach nur sechzig Sekunden, würde es ebenso finster werden wie jetzt. Und wahrscheinlich schien die Schwärze noch weitaus dunkler, wenn man keine weitere Lichtreserve in der Hand hielt. Es war wichtig, dass sie jetzt nichts Unbedachtes tat.
    «Hallo? Sind Sie da? Doktor Perl?» Nur das Wasser war zu hören. Es strömte immer weiter. Hatte der Mechaniker nicht von einem Sicherheitsventil gesprochen, das irgendwann automatisch die Wasserzufuhr regeln würde? Sie konnte nur hoffen, dass dies bald geschehen würde.
    Carolin entschied sich gegen das Licht. Und sie entschied sich, zu hoffen, dass hier irgendetwas schief gelaufen war. Dass innerhalb der nächsten sechzig Sekunden ohnehin jemand kommen würde, um sie rauszuholen. Sie zählte langsam vor sich hin. Bis sechzig wollte sie kommen. Erst merkte sie nicht, dass sie weiter und weiter zählte. Und bei einhundertfünfzig begann sie die Hoffnung aufzugeben.
    Sie hing nur an der Leiter und schaute in die Dunkelheit.
    Ihr Arm begann zu schmerzen.
    Sie kletterte nach oben, klopfte fünf- oder sechsmal gegen die Luke. «Hey, ich bin hier drin. Hilfe!» Es war höllisch anstrengend. «Hallo?» Sie musste einsehen, dass es keinen Sinn hatte und zudem viel zu viel Kraft kostete. Also stieg sie wieder hinab und kauerte sich auf die Stufe.
    Noch immer rauschte das Wasser. Carolins Fußsohlen wurden feucht, wenn sich ab und zu eine kleine Welle erhob. Das Schiff schien leicht zu schwanken. Waren sie inzwischen in den aufziehenden Sturm gelangt?
    Sehen konnte sie noch immer nichts.
    Plötzlich klickte es laut, und das Rauschen verstummtemit einem letzten Gluggern. Es war fast still. Gott sei Dank, das Sicherheitsventil hatte seinen Dienst verrichtet.
    Carolin entlastete ihre Arme, indem sie sich auf eine der Sprossen setzte und die Beine, durch die Leiter hindurchgesteckt, nach unten baumeln ließ. Eine Metallkante kniff unter den Oberschenkeln. Doch es war besser, als weiter an der Stiege zu hängen, mit kraftlosen Armen und zitternden Knien.
    Angst hatte sie nicht mehr. Es war seltsam. Eigentlich hätte sie schreien müssen. Oder Übelkeit verspüren. Doch sie fühlte sich teilnahmslos. Vielleicht war sie auch einfach zu müde, um sich zu fürchten. Die letzte Nacht hatte sie katastrophal geschlafen. Inzwischen musste es weit nach Mittag sein. Vielleicht. Eigentlich hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren. Und sie hatte bis auf das ihr von Sinclair Bess verabreichte Croissant nichts im Magen. Ihr Körper schien allmählich aufzugeben. Sie musste sich konzentrieren, um wach zu bleiben. Da blieb keine Kraft mehr für Angst.
    Das Wasser war zur Ruhe gekommen, sie gewöhnte sich an einen regelmäßigen Rhythmus aus Motorenbrummen und dem leisen Plätschern. Plötzlich erkannten ihre Ohren eine unbekannte Schwingung. Ein Ächzen, ein Seufzen, zumindest kein Geräusch, welches von Metall, Motor oder Wasser hervorgerufen sein könnte. Ein lebendiges Geräusch. Ein leises Rufen.
    «Doktor Perl?», wagte Carolin zu flüstern. Dann lauter: «Herr Perl? Sind Sie hier? Sagen Sie etwas! Oder geben Sie mir ein Zeichen!»
    Erst war nichts auszumachen. Zumindest nicht mit den Ohren. Doch die Innenflächen ihrer Hände spürten eine feine Vibration in den Leiterstreben. Klopfte jemand gegen die Tankwand? «Sind Sie das, Herr Perl? Klopfen Sie nochmal!»
    Es pochte. Fast unmerklich pochte es im Metall. Ein regelmäßiges Signal, fast wie ein SOS. Und dann wieder das leise Stöhnen.
    Was sollte sie jetzt tun? Wieder rufen und gegen die Luke hämmern, bis ihr die Kraft wegblieb? Oder die Fackel entflammen? Die letzte Hoffnung anzünden, um zu sehen, was das war und ob diese Geräusche etwas mit dem Ding zu tun hatten, welches sie vorhin im letzten Schein des Lichtes hatte ausmachen können? Die Luft war schwer und dick geworden, das Atmen war unangenehm. Die Fackel würde zwar für eine Minute den Raum erhellen, zudem aber auch dieses bisschen Luft mit beißendem Qualm füllen. Und wenn sich dann herausstellte, dass die vermeintlichen Signale nur eine Halluzination, eine akustische

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