Halbmast
und sensorische Täuschung waren?
«Wer ist da?»
«Hil-fe …» Kein Schrei, keine dringende Aufforderung, sondern zwei fast unhörbar aneinander gereihte Silben kamen aus der Richtung, in der sie vorhin dieses weiße Objekt gesehen hatte.
Carolin zog die Fackel unter dem Bund ihrer Hose hervor. Dann eben jetzt. Warum sollte dieser Augenblick besser oder schlechter sein als der vorherige oder der nächste? Noch war sie in der Lage, etwas zu unternehmen, falls ihr der Blick in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, etwas zeigen sollte. Etwas, das noch in der Lage war, Klopfzeichen zu geben und leise um Hilfe zu rufen.
Sie zog an der Öse, und der gleißende Funken stach ihr direkt in die Augen wie ein Pfeil. Noch nie hatte Licht ihr derartige Schmerzen bereitet. Normalerweise war die Helligkeit eine Verbündete, die ihr die Welt zeigte und half, das Leben abzulichten. Doch diese Strahlen, die am Ende des Plastikstabes in den vorher so finsteren Raum drangen, tatenweh. Sie konnte genauso wenig sehen und erkennen wie zuvor in der Dunkelheit. Als sie die Augen zusammenkniff, bedeckten Tausende purpurne Sterne die Innenseite ihrer Lider. Verdammt, wie lange brannte das Feuer nun schon? Vielleicht war es gleich vorbei, und dann hätte sie nichts davon gehabt.
«Hier!», hörte sie nun deutlich. «Hier!»
Sie streckte den Arm, in dem sie die Fackel hielt, machte ihn so lang wie möglich, hielt ihn weit weg von ihrer Blickrichtung, erst dann wagte sie, die Augen wieder zu öffnen. Langsam erschienen hinter der Helligkeit die Umrisse des tunnelartigen Raumes. Dahinten war er. Tatsächlich. An der Außenwand, die leicht rumpfförmig gebogen war. Das weiße Etwas. Es war ein Mann ohne Arme, der sich gegen die schräge Wand presste und den Mund öffnete und schloss wie ein Fisch an Land. Er hatte die Augen zusammengekniffen. Kein Wunder, wenn dies Doktor Perl war, so musste er seit fast vierundzwanzig Stunden in der Dunkelheit eingesperrt gewesen sein. Für ihn musste die Signalflamme unerträglich hell scheinen.
«Hier bin ich!» Wenn man die Bewegung der Lippen sah, konnte man das leise Rufen des Mannes besser verstehen. Wahrscheinlich hatte er zu lange um Hilfe geschrien und war nun heiser. Das Wasser stand ihm bis zur Mitte der Brust. Seine Arme waren nach hinten gebogen. Der Schweißer hatte gesagt, dass Perl gefesselt war. Aus diesem Grund hatte er sich auch nicht zur Leiter retten können. Vielleicht waren seine Beine ebenso verschnürt. Er war hilflos.
Ohne sie hatte er keine Chance. Ohne zu überlegen ließ sie sich ins beißend kalte Wasser gleiten. Es brannte auf der Haut, die eben noch von der warmen Luft umgeben gewesen war. Der schlagartige Temperaturwechsel ließ Carolin nach Luft schnappen. Ihr Brustkorb dehnte sich so weit, dass esschmerzte. Sie ignorierte es. Sie hatte keine Ahnung, wie lange die Fackel schon brannte, doch sie wusste, sie musste den Ertrinkenden erreichen, bevor das Licht erlosch, sonst würde sie ihn nicht finden und vielleicht verloren gehen in diesem riesigen Raum voll eisigem Flusswasser. Laufen ging nicht. Lediglich die Zehenspitzen berührten den Boden irgendwo dort unten. Carolin stieß sich von der Leiter ab. Sie schwamm, die Fackel mit einem Arm mühsam nach oben gehalten.
Je näher sie dem fremden Mann kam, desto besser konnte sie sein ängstliches Gesicht erkennen. Sie versuchte, ihn durch leise Worte zu beruhigen. Er blinzelte leicht, wandte seine Augen ab. «Keine Angst, Doktor Perl. Ich werde Ihnen helfen!» Ermutigend klangen Carolins Worte sicher nicht, denn sie verschluckte sich an dem Wasser, das nach Metall und Erde und ein wenig nach Salz schmeckte. Doch er schien zu verstehen, dass sie ihn retten wollte. Als sie nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, lächelte er fast, stieß sich von der Wand ab und schob sich in Carolins Richtung.
Sie berührten sich unterhalb der Wasseroberfläche. Carolin umfing mit ihren Händen seinen Oberkörper und wäre von seiner Größe fast in die Wellen gedrückt worden. Kaum spürte sie seinen abgekühlten Körper, da war es wieder finster. Sie schaffte es gerade noch, einen rettenden Blick in Richtung Leiter zu werfen, wie ein Seil, an dem sie sich ohne Licht wieder zum Ausgang hangeln konnte.
«Wir tasten uns an der Wand entlang, Doktor Perl. Dann können wir es schaffen.»
«W-wer sind Sie?», stotterte der Mann. Carolin konnte fühlen, dass er tatsächlich eingewickelt war wie das Opfer einer Spinne. Arme
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