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Halloween

Halloween

Titel: Halloween Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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wie Taschentücher aussehen – er geht wieder auf Zeitreise, auch das eine schlechte Gewohnheit, und versucht der Gegenwart zu entfliehen, in eine Zeit zurückzukehren, in der noch alles möglich war. Es ist wie bei Tim, wenn er an Danielle oder an den Kyle denkt, den er früher gekannt hat: Warum können sie nicht da bleiben, wo nichts wehtut? Warum müssen sie erwachsen werden? Warum müssen wir sterben?)
    Über Funk gibt er durch, dass alles in Ordnung ist. Ravitch meldet sich, hat aber nichts für ihn.
    Brooks schaut auf die Uhr – ein Fehler, aber auch eine Ruhepause. In zwanzig Minuten schließen die Bars. Er kann eine gutehalbe Stunde damit vertrödeln, die Parkplätze abzuklappern und die Gäste der First and Last Tavern und des Double Down Grill einzuschüchtern (ein jüngeres Publikum, mehr Ärger). Wenn er eine richtige Fahrzeugkontrolle vornehmen muss, könnte er damit mehr als eine Stunde rumbringen.
    Danielle beugt sich auf dem Vordersitz zu ihm rüber, als wollte sie ihn küssen, ihm was ins Ohr flüstern, und der Computer blinkt. Er sieht Tim mit seiner Stop’n’Shop-Schürze, Kyle, die Wagenschlange.
    (Das ist unfair, sagt Toe.)
    Ein vertrautes Gefühl von Hilflosigkeit überkommt Brooks, sein Atem aus der Brust gepresst, in der Kehle festsitzend, eine elektrisch aufgeladene, kitzlige Hitze, als müsste er jeden Moment niesen, die Nasennebenhöhlen zusammengedrückt. Er reibt sich mit beiden Händen übers Gesicht, und plötzlich, aus heiterem Himmel – und wir müssen jedes Mal zusehen, als würde diese Entschuldigung uns gelten –, bricht er in Tränen aus. Nur ein paar, rasch weggewischt, in die Wangen gerieben. Er holt wieder Luft, beschämt über sein unerschöpfliches Selbstmitleid, schnäuzt sich und steckt das Papiertaschentuch in den Aschenbecher.
    «Herrgott», sagt er, das Wort verschluckt von der Stille.
    Niemand gibt dir die Schuld, hat Melissa immer gesagt.
    Das ist auch nicht nötig, denkt Brooks.
    (Und was ist mit uns?, fragt Toe. Wir tun es.)
    Für Brooks liegt die Lösung darin, in Bewegung zu bleiben, sich auf die Arbeit zu konzentrieren – dieselbe Strategie, die Melissa frustriert hat. Er blinkt und biegt auf die 44, fährt die Ausfallstraße entlang, um die Bars abzuklappern. Die Heizung wärmt ihn, das Leuchten des Bildschirms sein Begleiter. Falls er Unterstützung braucht, ist er hier mit Ravitch auf dem Revier und mit Saintangelo verbunden, der im 2. Distrikt rumfährt; zu Hause sind bloß die Hunde und die leeren Wandschränke. Es ist erstaunlich, wie klein die Welt plötzlich sein kann. Und so trauriges auch sein mag, er gesteht sich ein, dass es stimmt: Er ist lieber hier draußen.
     
    Wie sollen wir Kyles Mom nennen – Mrs. Sorensen? Nancy? Sie ist Kyles Mom.
    Also ist es Kyles Mom, die aufbleibt, um auf ihn zu warten, sich im Morgenrock Letterman anschaut, horcht, ob Tims Jeep kommt, und dann die Tür öffnet, während Kyle den Weg herauftrottet. Es ist Kyles Mom, die Tim zuwinkt (Gott sei Dank, dass es Tim gibt, was würden sie ohne ihn tun?). Es ist Kyles Mom, die Kyles Mütze nimmt und sie zusammen mit der Lunchbox auf die Marmorplatte des Tisches legt, die ihm aus der Jacke hilft und sie aufhängt, während er wie ein Gast hinter ihr wartet.
    «Okay», sagt sie gut gelaunt, «ab nach oben.»
    «Ab nach oben», wiederholt Kyle, der sich wohl fühlt, als wäre er angetrunken, als wäre die ganze Welt zum Lachen (denn er denkt an das verbotene Wort, das in ihm tickt wie eine Bombe).
    Sie schaltet die Außenbeleuchtung aus und vergewissert sich, ob die Tür abgeschlossen ist, bringt die Lunchbox in die Küche, kontrolliert, ob er gegessen hat, und folgt ihm dann nach oben. Kein Grund zur Eile. Er geht ganz langsam, eine Hand auf dem Geländer, stellt den hinteren Fuß neben den vorderen und betritt erst dann die nächste Stufe. So ist es an allen Wochentagen, Kyles Dad (Mr. Sorenson, Mark) schläft schon, damit er rechtzeitig aufstehen kann, um zur Arbeit zu fahren. Seit Kyle arbeitet, sieht er ihn bloß noch am Wochenende, als hätte er das Sorgerecht abgegeben – als gehörte Kyle jetzt allein ihr. Der Zeitpunkt ist gut. Jetzt, wo Kelly aufs College geht, kann sich Kyles Mom auf ihn konzentrieren. In gewisser Hinsicht ist er ihr Baby.
    «Wasch dir das Gesicht richtig», sagt sie im Bad zu ihm, weil er schlimme Akne hat und es sonst vergisst. Sie lässt die Tür offen, für den Fall, dass er Hilfe braucht. Er lässt alles Mögliche fallen – die Zahnpasta in

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