Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Halloween

Halloween

Titel: Halloween Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
Vom Netzwerk:
er, aber als sie weggeht, wendet er sich wieder seinem Frühstück, den wichtigen Nachrichten zu.
    Sie steigt die Treppe hinauf, plötzlich wütend auf sich selbst, weil sie davon angefangen hat. Kyle hat den Toilettensitz nicht heruntergeklappt und ein nasses Handtuch auf dem Boden liegen lassen. Er steht nackt vor der offenen Tür des Wandschranks, hilflos, außerstande, sich zu entscheiden. Das angeklatschte Haar umschließt seinen Schädel wie eine Badekappe. Jeden Tag ist es, als würde man ganz von vorn anfangen.
    «Wie wär’s erst mal mit Unterwäsche?», fragt sie. Bei ihm scheint nichts zu dämmern, er geht bloß zur Frisierkommode und sucht nach einer Unterhose. Wie lange hätte er noch dort gestanden? Sie wünscht, sie wüsste es nicht: bis sie gekommen wäre und ihm geholfen hätte.
    Hose, Hemd, Socken, Schuhe. Im Rehazentrum hat man ihm genau diese Abfolge beigebracht, und er hat das meiste behalten, doch jeder Schritt bereitet ihm Mühe – das Hemd reinstecken isteine Qual –, und am Ende vergisst er, den Klettverschluss seiner Schuhe zu schließen. Sie hält sich zurück, hofft, dass er von selbst daran denkt, aber als er zur Tür geht, hält sie ihn auf. Er betrachtet die schlaffen Riemen, das Gesicht ausdruckslos, die Unterlippe herabhängend – um Fliegen zu fangen, hat ihre Mutter immer gesagt.
    «Tut mir Leid», sagt er – wieder, als könnte sie ihn bestrafen, und sie hat Angst, dass er ihre Enttäuschung bemerkt.
    «Ist ja nicht schlimm, bring’s einfach in Ordnung. Und kämm deine Haare. Hopp, hopp. Wir wollen doch nicht zu spät kommen.» Sie findet sich heuchlerisch, ihre Stimme zuckersüß wie die einer Cheerleaderin. Müde kann sie später sein, wenn die beiden weg sind und sie das Haus für sich hat – die schwierigste Zeit des Tages.
    Unten tunkt Kyles Dad mit seinem Toast das letzte Eigelb auf und erhebt sich, als sie Kyle zu seinem Stuhl führt.
    «Morgen, Kumpel», sagt Kyles Dad supergut gelaunt. «Bereit für einen weiteren großen Tag?»
    «Guten Morgen», sagt Kyle mit leichter Verzögerung. Sein Dad steht schon am Ausguss und spült seinen Teller ab. Die Sachen in der Geschirrspülmaschine sind sauber, also lässt er ihn im Ausguss stehen, noch etwas, das sie erledigen muss.
    «Und, was ist heute geplant?», fragt Kyles Dad, obwohl er es weiß (oder wissen sollte).
    «Dad», sagt Kyle. «Glaubst du, es schneit heute?»
    Kyles Dad sieht Kyles Mom an, als wollte er fragen: Was?
    Sie zuckt die Schultern.
    «Nein, Kyle, ich glaube nicht, dass es heute schneit.»
    «Du glaubst es nicht», wiederholt Kyle.
    «Nein.»
    «Warum nicht?»
    «Es ist nicht die richtige Jahreszeit», sagt Kyles Dad. «Die Luft ist noch zu warm.»
    Kyle schaut auf einen Punkt vor ihm, als würde er nachdenken, überlegen, was sein Dad meint. Dann betrachtet er das Vogelhäuschen, verliert sich im Geflatter der Vögel. Kyles Dad sieht seine Frau an, als wollte er ihr beweisen, dass er sich bemüht – als könnte sie ihn von seiner Schuld freisprechen (denn er ist auf eine andere Art verkorkst, will sich einfach nicht an uns erinnern, sondern nur an die Probleme, die sie direkt vor dem Unfall mit Kyle hatten; in gewisser Hinsicht ist er da aufrichtiger als sie, aber das nützt nichts).
    «Ich muss mich fertig machen», sagt er.
    «Nur zu.» Sie hat sich immer gewundert, wie kühl er sein kann (wie kühl sie ihm gegenüber sein kann). Jetzt nicht mehr.
    (Komm, Marco, sagt Toe, diese Leute sind langweilig. Warum können wir nicht bei Tim rumhängen?
    Nur zu, sagt Danielle und ahmt Kyles Mom ziemlich gut nach.
    Aua, sagt Toe und greift sich an sein nicht mehr schlagendes Herz.)
    Dann sind es bloß noch sie beide. Kyle sitzt schweigend da und hat ihr den Rücken zugekehrt, während sie für ihn Eier brät. Sie wirft ihm einen Blick zu, beobachtet, wie er den Vögeln bei ihren Stellungskämpfen zuschaut. Registriert er irgendetwas davon, oder läuft es bloß vor ihm ab, wie die Fernsehsendungen, die sie abends über sich ergehen lässt, während sich Kyles Dad mit dem Computer beschäftigt? Wenn Kyles Dad schon im Bett liegt und sie allein vor dem Fernseher sitzt, stellt sie sich manchmal vor, Kyle und Tim hätten noch einen Unfall, noch ein Polizist würde mitten in der Nacht an ihre Tür klopfen (diesmal
nicht
Brooks, der seine Pflicht tat und es ihnen persönlich mitteilte, auf der Fahrt den richtigen Tonfall einübte), noch eine Fahrt ins Krankenhaus, nur dass es diesmal keine Überlebenden gibt. Sie muss

Weitere Kostenlose Bücher