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Halloween

Halloween

Titel: Halloween Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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ihn identifizieren, ein Arzt in einem weißen Kittel schlägt das Laken zurück. Sie findet die alte Tätowierung über seinem linken Knöchel, eine kleine Wolke, aus der ein riesigerBlitzstrahl hervorschießt (was das bedeutet, weiß sie nicht mehr). Dieser spätnächtliche Tagtraum ist eine Erleichterung, ein Grund, sich noch schlechter zu fühlen, eine Art Selbstquälerei, die sie nicht vermeiden kann, obwohl sie weiß, dass sie eigentlich nicht daran glaubt. Außerdem, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit? Sie ist neunundvierzig. Er wird sie überleben, und dann? Wer macht ihm dann das Frühstück? Wer bindet ihm die Schuhe? Der Gedanke daran ist schwerer zu ertragen als dieser saubere Tod.
    Sie brät ihm die Eier so, wie er sie mag (sie mochte). Ihr Gesicht – ihr gesamter Körper – fühlt sich an wie in Fett getränkt, die Poren versiegelt. Ihre Belohnung dafür, dass sie die beiden aus dem Haus bugsiert, ist eine lange Dusche, das gedämpfte Licht ihres Schlafzimmers bei zugezogenen Vorhängen. Sie muss fünf Stunden ausfüllen – zwei davon widmet sie der Bücherei, eine verbringt sie mit der Zubereitung des Mittagessens, und dann schaut sie sich eine Folge ihrer Seifenoper an. Als sie aufs College ging, hatte sie nie so viel Zeit, und sie hätte Lust, sich für ein oder zwei Kurse einzuschreiben (sie braucht nur noch ein Dutzend Scheine für ihren Magister), aber sie weiß nicht, wie sie mit der Arbeit fertig werden soll. Zwischendurch braucht sie Ruhe, um ihre Energie zurückzugewinnen.
    Sie macht Kyles Teller fertig, und inzwischen hat Kyles Dad seine Aktentasche aus dem Arbeitszimmer geholt und kommt in Jacke und Krawatte herunter.
    «Wann bist du wieder zu Hause?», fragt sie, denn wenn sie es zulässt, vergräbt er sich im Büro.
    «Wie immer.»
    «Und wann ist das?»
    «Nance», sagt er, als wäre sie uneinsichtig.
    «Ich muss wohl dankbar sein, dass du überhaupt nach Hause kommst.»
    Und sie sieht, dass er ihr zustimmen will, sie mit der Waffeverletzen will, die sie ihm in die Hand gegeben hat. (Das ist echt
übel
, sagt Toe, dem das Ganze gefällt.)
    «Ich bin um sechs zu Hause», sagt er.
    «Wir sind heute allein», lenkt sie ein. «Kyle arbeitet.»
    «Willst du ausgehen?», fragt er, und als ihr die Bedeutung seines Vorschlags klar wird, scheint er zu merken, was er angerichtet hat. Er wird blass und hebt die Hand, um die ganze Idee rückgängig zu machen. «Vergiss es. Ich meine …»
    «Warum nicht?» Und sie ist hartnäckig, entschlossen.
    «Bist du dir sicher?»
    «Immer noch besser, als hier herumzuhocken. Du musst dich mit mir unterhalten. Wir werden nicht bloß dasitzen.»
    «Mach ich. Du entscheidest, wohin. Aber nicht ins Charthouse.»
    Das letzte Mal, als sie ausgegangen sind – eine Katastrophe. Sie spürte, dass alle sie anstarrten, die Mutter dieses armen Jungen. Wie konnte sie da lachen oder ein Glas Wein genießen? Sie konnte entweder eine Ausgestoßene oder ein Ungeheuer sein, aber sie war nicht mehr wie die anderen. Diesmal wird es genauso sein, denkt sie und beobachtet, wie er in seinen Wagen steigt (er könnte einen Unfall haben, er könnte werden wie Kyle, und beide müssten jeden Tag gewaschen und angezogen werden). Warum sie eingewilligt hat, mit ihm auszugehen, ist ihr ein Rätsel. Um sich an ihm zu rächen? Um zu beweisen, dass sie stärker ist, als er denkt?
    Sie winkt. Er winkt ebenfalls, fährt rückwärts aus der Einfahrt auf die Straße und ist verschwunden, in eine andere Welt, und sie beneidet ihn. Wo sollen sie zu Abend essen? Worüber sollen sie reden?
    In der Küche hat Kyle alles aufgegessen. Er sitzt mit der Serviette auf dem Schoß da, fasziniert von den Vögeln. Sie muss ihn an die Uhrzeit erinnern. Der Bus kommt bald, und sie wollen doch nicht, dass Peggy wie neulich warten muss.
    Oben überlässt sie ihn sich selbst und kümmert sich ums Geschirr, macht sein Sandwich und räumt auf, wischt den Herd und die Arbeitsfläche ab, lässt den Müllschlucker laufen und spült den Ausguss aus. Sie hat Kyle genug Zeit gegeben, um alles zu erledigen, aber es ist schon zehn nach. Am Fuß der Treppe bleibt sie unschlüssig stehen und ruft nach oben.
    «Ich komme», sagt er, aber dann dauert es noch eine weitere Minute.
    «Hast du die Zähne richtig geputzt?», fragt sie aus Gewohnheit und wendet sich ab, bevor er antwortet. Er nuschelt irgendwas, und als sie ihn wieder anschaut, um zu sehen, ob er die Wahrheit sagt, kommt er fauchend auf sie zugestürzt, beide Arme

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