Halo - Tochter der Freiheit
du, die skythische Wache kommt und holt uns und wirft uns ins Gefängnis? Wozu denn auch? Bis dahin ist sie wahrscheinlich längst tot!«
Seine Mutter verbarg das Gesicht in den Händen.
»Halo, spar dir die Mühe«, murmelte der junge Mann. »Die Guten sterben noch schneller als die Bösen. Warum sollen wir überhaupt noch helfen? Vor zwei Wochen hat mein Bruder alles Geld geerbt, das mein Vater hatte, als er starb – hör schon auf, Mutter, du weißt, dass das stimmt –, und jetzt? Jetzt sind beide tot, ha ha ha! Und Lenane ist fast tot, und bald sind wir alle tot! Gib dein Geld heute noch aus, Halo, morgen nützt es dir nämlich nichts mehr …«
»Ihr alle – raus aus dem Zimmer«, befahl Halo ruhig. »Es ist zu eurem eigenen Schutz. Wenn ihr bei ihr bleibt, wird die Krankheit auf euch übergreifen.«
Sie sagte es ganz automatisch – sie wusste, dass sie nicht aus dem Raum gehen würden. Wie denn auch? Sie liebten Lenane; niemals würden sie sie allein lassen.
Philoktetes saß in einer Ecke, still und stumm, strich leise über seine Lyra und schwieg. Halo legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Schaut mich nicht so an«, murrte Alexis. »Ich mach ja nur Spaß. Tue keinem weh. Bald sind wir alle tot, und den Göttern ist es völlig egal. Halo, du kannst unser ganzes Geld stehlen, oder was davon noch übrig ist, und das Leben noch mal richtig genießen. Denn morgen sind wir alle tot. Tot. Tot. Ist doch egal. Tralala. Tralala.«
Halo achtete nicht auf ihn. Sie wischte den Schweiß von Lenanes Stirn.
»Na, Zeus und Apollon ist es vielleicht egal«, brach es plötzlich aus der Mutter heraus, »weil wir sie beleidigt haben, aber es gibt schließlich noch andere Götter. Fremde Götter können uns vielleicht helfen, wenn wir sie nur richtig anflehen. Es gibt da einen neuen Gott – wir sollten vielleicht zu dem geheimen Priester gehen …«
»Zu wem?«, lallte ihr Sohn. »Warum soll sich ein neuer Gott um uns kümmern, wenn nicht einmal Athena etwas für uns tun kann, in ihrer eigenen Stadt? Jedes Jahr haben wir die Großen Dionysien veranstaltet, um Dionysos zu danken, dass er die Pest von uns genommen hat – und trotzdem ist sie jetzt wieder da! Interessiert ihn das? Alle Götter sind Unfug, Mutter.«
Seine Mutter brach in Tränen aus.
Lenane spuckte Blut.
Alexis fluchte und taumelte aus dem Raum, um noch mehr Wein zu holen.
Halo biss sich auf die Lippen, achtete nicht mehr auf das Gerede und machte sich daran, das Blut wegzuwischen.
»Ich mache ihnen keine Vorwürfe«, sagte sie später zu Arko. »Was bleibt ihnen noch, woran sollen sie noch glauben? Hippias sagt, die Miasmen kommen wieder, die Krankheit wird durch die Luft zu uns getragen. Aber er weiß auch nicht, was man dagegen tun kann.«
»Ich höre nur immer, die Götter seien beleidigt, weil die Landflüchtlinge an ihren Tempeln wohnen, und jetzt seien sie noch mehr beleidigt, weil Leute vor ihren Tempeln gestorben seien und wir sie nicht richtig beerdigt hätten, und deshalb zürnen sie jetzt erst recht, weil nun die Leichen vor ihren Tempeln liegen bleiben und nicht mehr beerdigt werden, weil jeder, der sie anfasst, vielleicht auch sterben wird. Nein, Halo – es ist nicht deine Aufgabe, sie zu verscharren. Du tust jetzt schon mehr als genug, um zu helfen.«
Aber Halo wusste auch, dass Arko erst gestern ein totes Kind auf der Straße aufgehoben, in ein Tuch gewickelt und in eine Totengrube gelegt hatte, die ein reicher Mann unten auf dem Friedhof Kerameikos hatte ausheben lassen und in die alle ihre Toten legen durften. Das hatte ihr Arko nicht erzählt; sie hatte es von Akinakes erfahren, weil ein Bürger sich bei ihm für die Freundlichkeit des Zentaurs bedankt hatte.
»Güte und Mitleid sind verschwunden«, seufzte Halo. »Es ist, als sei die ganze Stadt verrückt geworden.«
Sie waren auf dem Heimweg ins Lager der Skythen, ein Weg, den sie schon so oft gegangen waren. Aber jetzt waren die Straßen leer und still. Und etwas Gutes hatte die Pest – die Spartaner waren abgezogen.
»Die Götter mögen uns sterben lassen«, sagte Arimaspou später am Abend, »aber sie schützen uns auch vor den Spartanern. Dafür sollten wir ihnen dankbar sein.«
Darüber mussten Halo und Arko lachen – aber es war ein bitteres Lachen.
Wenigstens bedeutete das, dass man wieder gefahrlos in das verlassene Land rings um die Stadt hinausreiten konnte. Halo war auf Ivy unterwegs. Das Frühlingsgrün war dem trockenen Gold des Hochsommers
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