Halo - Tochter der Freiheit
sie sich frei und unbeschwert. Wenn sie auf Ivy ritt, schien alles vom Wind weggeblasen zu werden: der unheimliche Gestank der Krankenzimmer, das Schreien der Kranken, das Jammern der Angehörigen und der ekelhafte Schmutz der Krankenlager, ja sogar der Geruch des Todes. Das wunderbar starke Tier machte sie froh, stärkte ihre Entschlossenheit, sich nicht von diesem ganzen Elend überwältigen zu lassen, und gab ihr neue Lebenskraft und Überlebenswillen.
Ich bin jung, ich bin nicht krank, ich bin nicht tot, ich habe mein Leben noch vor mir …, redete sie sich Mut zu. Die Mandelbäume blühen jedes Jahr aufs Neue. Die Dinge ändern sich. Auch Pest und Krieg werden vorübergehen. Dann wird alles anders …
ΚΑΠΙΤΕΛ 31
In diesem langen, schrecklichen Sommer des Todes holte die Pest auch Perikles’ Schwester, seinen Sohn Xanthippos, dessen drei Adoptivkinder, ihre Großmutter Deinomache und ihre alte Amme Amycla. Den Joghurtverkäufer und seine Frau mit ihrem Kind. Philoktetes’ gesamte Familie, auch Alexis und Philoktetes selbst. Außerdem Hippias’ Vetter, drei weitere Ärzte in Piräus, den Sklaven von nebenan, die Stalljungen, die vier Athleten, die Lehrer. Und, sämtliche Patienten, die Halo gepflegt hatte und deren Namen sie nicht einmal kannte – wie schnell sie starben, täglich zwei oder drei …? All diese Menschen – wer waren sie?
Sie dachte oft an das Kind, das Arko zu dem Massengrab getragen hatte.
Früher hatte sie den Krieg für den größten Feind gehalten, aber die Pest tötete jetzt weit mehr Menschen, als irgendein Krieg es vermochte . Vielleicht haben die Götter wirklich genug von Athen … Der Gedanke ließ sie nicht mehr los. Vielleicht wollen sie uns alle auslöschen .
Am Tag nach diesen schweren Gedanken wurde es kühler, es ging auf den Herbstanfang zu, und es kam eine Nachricht von Aspasia. Perikles Augen seien rot und er huste.
Halo sah ihren Gedanken bestätigt: Den Göttern war es egal, was mit Athen geschah. Ohne Perikles würde die Stadt völlig hilflos sein.
Mir ist es völlig egal, was die Götter denken , sagte sie sich zornig, griff nach ihrer Tasche und lief, so schnell sie konnte, zu Perikles’ Haus.
Als sie dort ankam, war Perikles bereits nicht mehr bei Sinnen. Aspasia ließ sie ein, küsste sie und erlaubte ihr, bei ihm zu sitzen und ihn zu pflegen. Wie stark ist doch die Hoffnung im menschlichen Herzen! Obwohl alle wussten, dass es sinnlos war, sich gegen den Dämon Pest zu wehren, versuchten es trotzdem alle, weil sie Perikles liebten und weil sie schier überwältigt wurden von dem Gedanken, ohne ihn weiterleben zu müssen. Er erhielt die beste Pflege, die überhaupt noch möglich war. Die Sklaven schafften alles herbei, was sein Leiden lindern konnte, die besten der noch lebenden Ärzte eilten an sein Bett, und auch Halo blieb jeden Tag achtzehn Stunden lang bei ihm und hörte ihn schreien und toben. Aspasia setzte ihr eigenes Leben aufs Spiel, weil auch sie an seinem Bett wachte und für ihn betete.
Eines Morgens, nachdem sie die ganze Nacht an seinem Lager gesessen hatte, konnte sie trotz ihrer Müdigkeit nicht einschlafen. Also kehrte sie in Perikles’ Krankenzimmer zurück. Sie roch den längst vertrauten Geruch und hatte wieder das Gefühl, dass der Tod bereits still neben der Tür stand und darauf wartete, dass Perikles endlich aufgab.
An diesem Morgen war er ganz ruhig und sehr schwach. Zehn Tage waren vergangen, seit er krank geworden war.
»Schau doch«, sagte er leise, »die Frauen haben ein Amulett auf meine Brust gelegt. Vom neuen Gott. Sie glauben, dass es mich retten kann. Was hältst du davon?«
Halo wagte nicht, ihm zu sagen, was sie davon hielt: Wenn Perikles, die Vernunft in Person, den Frauen in seinem Haus erlaubt hatte, ihm das Amulett eines neuen Gottes um den Hals zu hängen, dann musste es ihm wirklich sehr schlecht gehen.
»Bist du nicht überrascht, dass ich ihnen eine solche Dummheit erlaubt habe?«, fragte er.
Halo lächelte, gab aber keine Antwort – sie war kurz davor, in Tränen auszubrechen.
»Es gibt ihnen Trost«, flüsterte er und lächelte. Und Halo dachte, was für ein feiner Mensch er war, dass er selbst auf dem Sterbebett noch an andere dachte.
»Wer bist du?«, fragte er dann, offenbar konnte er sie im Halbdunkel nicht erkennen.
Am liebsten hätte sie ihm nicht geantwortet. Schwach wie er war, sollte er nicht noch zorniger auf sie werden. Aber sie wollte ihn auch nicht mehr belügen.
»Halo«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher