Halo - Tochter der Freiheit
Nebengasse ab.
Worum ging es da eigentlich?, wunderte sie sich.
Die Antwort entdeckte sie am nächsten Morgen.
Als sie zu Philoktetes’ Haus kam, um nach Lenane zu sehen, hörte sie schon von der Straße das Wehklagen der Sklaven. Die Mutter lag hysterisch schreiend vor dem Hausaltar. Alexis stand wie eine Statue bleich an der Tür, und Lenane war tot.
»Aber es war doch erst der vierte Tag!«, rief Halo aus. »Was ist geschehen?« Nur ihr Wissen, wie die Pest verlief, gab ihr noch ein wenig Sicherheit. Wenn sich die Pest nicht mehr an den Ablauf hielt, den Halo bisher beobachtet hatte, waren alle ihre Aufzeichnungen und alles, was sie gelernt und beobachtet hatte, umsonst gewesen – völlig nutzlos.
»Was ist passiert?«, rief sie noch einmal und nahm schon ihre Tafel heraus, um sich Notizen zu machen.
»Ich habe sie getötet«, sagte Alexis tonlos.
Halo ließ die Tafel sinken und starrte ihn sprachlos und völlig schockiert an.
»Konnte es nicht mehr ertragen«, stöhnte er auf, und sein Blick irrte durch den Raum. »Wollte es selber tun, brachte es aber nicht fertig … ich habe es versucht, gestern Abend, als du weg warst … Ich schäme mich nicht, außer, dass ich nicht stark genug war, es selbst zu tun. Aber dafür gibt es Männer, das weiß jeder …«
Halo konnte kaum glauben, was sie da hörte.
»Es waren zwei Männer«, sagte Alexis, während Tränen über sein Gesicht strömten. »Polemides, ein Soldat, und der andere heißt Telamon. Sie haben selbst alles verloren. Polemides tötete seine Mutter. Und Telamon tötete seine Schwester – er hatte fünf Tage lang an ihrem Bett gesessen, dann tötete er sie. Und er macht das jetzt für jeden, der ihm genug Geld gibt, um sich für einen weiteren Tag zu betrinken. Der neue Gott gibt seinen Segen dazu – wenigstens er versteht, dass wir zu viel Leiden ertragen müssen. Er ist gut.«
»Oh, gute Athena, gütiger Apollon«, flüsterte Halo, »was geschieht nur mit uns? Was soll denn noch geschehen?«
»Merk dir ihre Namen«, rief Alexis und starrte sie mit wirrem Blick an, »vielleicht brauchst du sie bald selbst.«
Halo wusste, dass es falsch war, was Alexis getan hatte. Und was diese Männer in seinem Auftrag getan hatten. Aber … aber …
Auf ihre Weise versuchten sie, weiteres Leiden zu verhindern, genau wie Halo selbst. Das Mitleid hatte sie zu ihrer grauenhaften Tat getrieben.
Darüber sollten die Philosophen einmal diskutieren, dachte sie bitter. Aber diese Mörder sind bessere Menschen als der Amulettverkäufer. Denn wenigstens sagen sie ehrlich, was sie tun werden .
Wie immer sprach sie mit Arko darüber.
»Ehrlich?«, sagte er. »Ehrlichkeit war das erste Todesopfer der Pest. Hast du schon von dem neuen Gott gehört?«
»Alexis hat einen neuen Gott erwähnt. Ist es Herakles Alexicacos? Oder sind es die Töchter des Leos?«
»Nein, ein ganz neuer Gott. Er heißt Balbo oder Bolbo oder so ähnlich, und angeblich wird er uns alle retten. Er kommt aus dem Osten, hat Hörner wie ein Stier und kann die Pest vertreiben. Er hat keinen Tempel, aber er nimmt Opfergaben an. Wirst du krank, kommt er am dritten Tag und wirft dich auf den Hörnern hoch, bis die Krankheit vertrieben ist, und dann wirst du wieder gesund. Er hat einen Geheimpriester, den aber niemand sehen darf.«
Halo hätte gelacht, wenn die Sache nicht so tragisch gewesen wäre. »Sie suchen so verzweifelt nach einem Ausweg, dass sie sich an alles, aber auch wirklich alles klammern.«
»Nein, wirklich«, sagte Arko, und sein Ton verriet ihr, dass er kein Wort von dem, was er sagte, glaubte. »Ich habe einen Mann kennengelernt, der schwor, dass er einen Mann kenne, dem genau das passiert sei. Er hat behauptet, der andere Mann habe den Gott tatsächlich gesehen. Er hat mir alles erklärt – sogar dass der Mann rote Blutergüsse am ganzen Körper gehabt habe, die von den Hörnern stammten. Ja, die Kranken müssen leiden, aber am Ende ist es die Leiden wert. Und manchmal werden sie beim Kampf des Gottes gegen die Pest blind oder die Fingerspitzen fallen ihnen ab, aber das ist ein kleiner Preis für das Überleben.«
»Jeder Arzt wird dir sagen, dass manche Leute die Pest überleben.«
»Kann sein, aber die Ärzte sind alle tot«, sagte Arko. »Wie geht es eigentlich Hippias?«
»Er lebt noch«, antwortete sie düster.
An diesem Abend ritt sie wieder mit den Skythen hinaus. Die Ritte nahmen ihr wenigstens für ein paar Stunden die Sorgen von den Schultern; nur dann fühlte
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