Halo - Tochter der Freiheit
Delphi, das Zentrum der Welt, und Athen, die große Stadt im Osten. Sie erinnerte sich genau an die großen, wilden Gebirgszüge des Peloponnes, wo sie sich verlaufen hatte. Sie wiederholte die Namen der Berge des Peloponnes – und begriff, was geschehen war. Sie war vermutlich viel weiter südlich, als sie angenommen hatte. Sie war nicht auf der Elis oder bei Messenien an Land gegangen, sondern ganz im Süden, an der Küste der Mani, und war dann in den östlichen Teil des Taygetos-Gebirges geraten.
Kein Wunder, dass die Leute hier so grob waren! Die Bewohner der Mani waren berühmt für ihre raue Lebensart. Vielleicht konnte sie einen Ort finden, wo die Leute vernünftiger waren. In einer größeren Stadt würden sie ihr eventuell weniger Beachtung schenken. Im Kopf ging sie die Städte auf dem Peloponnes durch: Argos und Korinth im Norden – und Sparta.
Sparta lag der Mani am nächsten, östlich der Taygetos-Berge. Und Nimine hatte gesagt, dass es die Mädchen in Sparta besser hätten. Dorthin wollte sie gehen. In einer Stadt waren die Menschen sicher hilfsbereiter und aufgeschlossener. Sie würde einen einsichtigen Bootsbesitzer finden und für die Rückfahrt nach Zakynthos arbeiten.
Es beruhigte sie, einen Plan zu haben.
Als einige Zeit später das fahle Licht der Abenddämmerung durch das Fenster sickerte, hörte sie den Mann und die Frau lachen. Es war ein hässliches, beängstigendes Lachen, ganz anders als das Lachen, das sie von den Zentauren kannte. Im Halbdunkel hockend, starrte sie die Wand an und schnaubte leise, denn ihr war eine Idee gekommen. Sie stand auf, holte den scharfkantigen Stein hervor, den sie seit dem Strand in einer Falte ihres Chitons trug, und begann damit, an der Wand zu kratzen.
Die Wand war, genau wie sie gedacht hatte, aus Stämmen, Zweigen und Lehm gebaut. Ohne große Mühe schabte Halo mehrere Kerben hinein, die groß genug waren, um ihren Füßen Halt zu geben. Und ebenso mühelos kletterte sie dann zum Fenster hinauf. Sie spähte hinaus. Der Abend war still und warm. In den Bäumen zirpten Zikaden. Im Westen war der Himmel flammend rot.
Halo kletterte wieder nach unten, setzte sich still ins Heu und dachte nach. Nach einiger Zeit, draußen war es bereits dunkel geworden, erstarben die Stimmen aus dem Haus, und der Mond warf sein Licht durch das kleine, hohe Fenster. Es war ein Leichtes hinaufzuklettern, und es war auch nicht schwierig, sich durch die Fensteröffnung zu schieben und nach unten zu springen. Es war auch ganz einfach, zu dem kleinen Haus hinüberzuschleichen. Und noch leichter, durch die Tür in den kleinen Innenhof zu schlüpfen, denn sie war nicht einmal abgeschlossen.
Der Mann lag auf einer Matte in der Stube, sein Kopf war nach hinten gesunken, sodass sein knotiger Hals zu sehen war. Neben ihm lag zusammengerollt die Frau und schnarchte. Auf dem Tisch stand ein leerer Krug – Halo roch daran. Er roch nach etwas wie Wein, nur stärker. Sie rümpfte die Nase und stellte den Krug wieder ab. Dank dir, Dionysos, dass du sie umgehauen hast.
Der Mond schien durch die offene Hoftür ins Haus, direkt auf das gerötete Gesicht der Frau. Es war von kleinen Adern durchzogen, und in einem Mundwinkel hatte sich ein wenig Speichel gesammelt. Während Halo sie betrachtete, zuckte die Frau im Schlaf und rollte sich auf die andere Seite. Nun sah Halo, dass ihr eines Auge blau war – blutunterlaufen wie eine zerquetschte Pflaume.
Halo zitterte vor Entsetzen. Was für ein Biest war dieser Mann. Sie sah ihn an. Er schlief tief und fest und schnarchte wie ein Schwein. Und plötzlich verspürte Halo den Wunsch, ihm den dreckigen Hals aufzuschneiden. Sie erschrak über ihre Gefühle und versuchte, sie zu verscheuchen. Sie atmete scharf durch die Nase aus und schüttelte sich. Das Gefühl war schnell wieder verflogen, aber sie war aufgewühlt, und ihr Puls raste. Sie zwang sich, den Mann weiter anzusehen. Auf keinen Fall wollte sie jemanden töten, egal was er für ein Schuft war, egal was er getan hatte. Das Töten war Sache der Götter, nicht der Menschen.
Sie zwang sich zur Ruhe. Das war der Zorn. Ich bin einfach nur wütend geworden . Trotzdem biss sie die Zähne zusammen.
Hatte er ihr etwas getan? Nein. Und dort, um den faltigen Hals der Frau, lag ihre goldene Eule an dem Lederband. Halo lächelte verbissen und beugte sich vor. Der Knoten befand sich im Nacken und war in einem Gewirr von Haaren versteckt. Behutsam nahm Halo das Band zwischen Daumen und Zeigefinger
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