Halo - Tochter der Freiheit
nun konnte sie es nicht essen. Wie dumm von ihr. Sie wünschte sich in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als irgendwie Feuer machen und das Fleisch braten zu können und auch den Göttern etwas zu opfern, zum Dank, dass sie sie behütet hatten. Sie konnte ihnen auch rohes Fleisch opfern, aber die Götter liebten den Duft von Gebratenem besonders. Ein Feuer könnte sie wärmen, und sie würde sich im Dunkel der Nacht geborgener fühlen.
Halo stellte sich den köstlichen Duft von gegrillter Ziege vor, das Zischen, wenn das Fett in die Glut träufelte, die ganze Familie, die um das Feuer saß und eine heiße Mahlzeit verspeiste … einen Augenblick lang empfand sie ihre Einsamkeit wie körperlichen Schmerz – wie einen Stich im Bauch. Sie schloss die Augen, und helle Funken blitzten unter ihren Lidern – beinahe verärgert schüttelte sie das Gefühl von sich ab.
Sie war so hungrig. Und sie hatte eine Ziege getötet. Sie war es dem Tier schuldig, es nicht zu vergeuden.
Sie band das Messer vom Schaft und sagte: »Artemis, Göttin der Jagd, verzeih mir dieses armselige Opfer, das nicht einmal zubereitet ist, aber ich danke dir, dass du mich vor den wilden Tieren des Waldes behütet hast, und ich danke dir für dieses … äh … Mahl …«, und mit diesen Worten schnitt sie Streifen des zähen Fleisches aus dem Tier und begann zu kauen.
Es war widerlich.
Aber es war Nahrung. Und die brauchte sie am nötigsten. Sie kaute das blutige Fleisch und fühlte sich gestärkt. Dann schnitt sie noch einige Streifen zurecht und wickelte sie in Blätter, um sie mitzunehmen.
Am zweiten Tag kam sie an einen schmalen Bachlauf, wo sie ihre Wasserflasche auffüllte. Doch am dritten Tag fand sie keinen Bach, und ihr Wasservorrat war verbraucht. Beim Einschlafen wandte sie sich wieder an Demeter: »Bitte hilf mir, Essen und Wasser zu finden«, sagte sie leise. »Ich gebe dir gern etwas davon ab. Bitte gib mir Kraft. Ich weiß nicht, wer in dieser Gegend für Wasser zuständig ist – mach, dass die Nymphen mich dorthin führen. Bitte, Artemis, Hüterin der Jungfrauen, gib mir Mut. Bitte, Athena, Göttin der Weisheit, gib mir Klugheit. Hera, Gottesmutter der Familie und Apollon, Freund der Zentauren, tröstet meine Familie …«
Der vierte Tag war schlimm. Sie fand wieder kein Wasser, und über das Ziegenfleisch hatten sich Ameisen hergemacht. Es fing bereits an zu stinken. Halo war von Mücken zerstochen, was ihr normalerweise nichts ausmachte, aber diese Stiche juckten fürchterlich, und einige hatten sich entzündet. Sie fand aber keine Blätter, mit denen sie die Stellen einreiben hätte können. Sie kannte es nicht anders, als dass alles, was sie benötigte, in greifbarer Nähe wuchs, aber diese Wälder waren nicht so freigebig wie die auf Zakynthos.
Aber am schlimmsten war die Einsamkeit, sie wurde immer bedrückender. Halo sehnte sich nach ihrem eigenen Schlaflager, nach zu Hause, nach den Freunden und der Familie. Sie wollte zu Chariklo. Sie wollte zu Arko.
Sie ging weiter und dachte daran, dass er ihr Mut zusprechen würde, wenn er da wäre, und dass sie ihn nie im Stich lassen würde. Ich möchte ein Knabe sein wie er, dachte sie.
An diesem Abend fand sie ein paar matschige Champignons und einige Kornelkirschen. Die aß sie und auch noch eine Handvoll Mandeln aus dem vergangenen Jahr, die sie unter einem Baum gefunden hatte. Auf einem Felsen schlug sie die Schale mithilfe eines Steins auf. Das weiße Innere der Mandeln war süß und schmeckte köstlich, aber die äußere braune Haut war trocken und zog ihr die Zunge zusammen. Trotzdem hätte sie viel mehr davon essen können – aber sie sparte einige auf, da sie nicht wusste, was sie am nächsten Tag in dieser ausgedörrten Landschaft an Essbarem finden würde. Wenn es ganz schlimm käme, könnte sie auch Affodill-Wurzeln oder Eicheln essen … aber sie hatte keine Möglichkeit, sie zu zermahlen oder zu kochen, und ungekocht machten sie krank. In dieser Nacht schlief sie schlecht. Sie wälzte sich einsam in ihrem Umhang hin und her, unterdrückte ihre Tränen und lauschte auf das Knurren ihres Magens und das Heulen der Wölfe.
Sie erwachte hungrig und war schon zu Beginn ihres Tagesmarsches müde. Weit und breit nur verkrüppeltes Buschwerk und Felsen: heiß, trocken, erbarmungslos. Sie war verzweifelt. Ich werde hier ewig weitergehen und dann irgendwann vor Schwäche umfallen und sterben. Allein in der Wildnis.
Gegen Mittag sehnte sie sich nach einer Pause.
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