Halo
nie,
Und wären die Engel auch noch so scheel,
Sie trennten doch nicht meine Seel’ von der Seel’
Der lieblichen Annabel Lee.
Wenn die Sterne aufgehn, so kann ich drin sehn
Die Äuglein der Annabel Lee,
Und noch jegliche Nacht hat mir Träume gebracht
Von der lieblichen Annabel Lee.
So ruh’ ich denn, bis der Morgen graut,
Allnächtlich bei meinem Liebchen traut
In des schäumenden Grabes Näh’,
An der See, an der brandenden See.»
Es war nicht zu übersehen, dass alle Mädchen im Raum, inklusive Miss Castle, geradezu hingerissen waren. Alle starrten ihn an, als hätte gerade ihr Ritter in glänzender Rüstung Einzug gehalten. Selbst ich musste zugeben, dass es ein beeindruckender Vortrag war. Die Art, wie er das Gedicht rezitiert hatte, war so ergreifend, als wäre Annabel Lee wirklich die Liebe seines Lebens gewesen. Einige der Mädchen sahen aus, als wollten sie sofort aufspringen und ihn über seinen Verlust hinwegtrösten.
«Das war eine sehr beeindruckende Interpretation.» Miss Castle atmete schwer. «Wir müssen Sie im Hinterkopf behalten, wenn die Jazz- und Poetry-Nacht ansteht, Jake. Gut, meine Lieben, ich hoffe, das hat Sie für Ihre eigenen Dichtungen inspiriert. Ich möchte, dass Sie sich je zu zweit zum Brainstorming zusammentun. Die äußere Form überlasse ich vollkommen Ihnen. Lassen Sie alles zu – Sie haben völlige dichterische Freiheit!»
Die Schüler begannen sich umzusetzen, bis alle in Paaren im Raum verteilt saßen. Auf dem Weg zurück zu seinem Platz hielt Jake vor meinem Tisch an.
«Wollen wir zusammenarbeiten?», fragte er schmeichelnd. «Ich habe gehört, dass du auch neu bist.»
«Ich bin schon eine ganze Weile hier», sagte ich. Der Vergleich gefiel mir nicht.
Jake interpretierte meine Antwort als Zustimmung und glitt auf den Platz neben mir. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, die Hände entspannt hinter dem Kopf verschränkt.
«Ich bin Jake Thorn», sagte er und sah mich mit Schlafzimmerblick aus seinen dunklen Augen an. Er streckte mir eine Hand entgegen.
«Bethany Church», antwortete ich und reichte ihm zögerlich die Hand.
Anstatt sie zu schütteln, wie ich erwartet hatte, drehte er sie um und führte sie in einer lächerlich galanten Geste an seine Lippen. «Sehr erfreut, deine Bekanntschaft zu machen.»
Ich musste mich beherrschen, nicht loszulachen. Erwartete er, dass ich ihn ernst nahm? Was glaubte er denn, wo er war? Ich hätte losgelacht, wenn ich mich nicht selbst dabei ertappt hätte, wie ich ihm in die Augen sah. Sie waren dunkelgrün und ihr Blick stechend. Trotzdem wirkte er müde, und sein Gesichtsausdruck verriet, dass er mehr von der Welt gesehen hatte als die meisten in seinem Alter. Sein Blick ruhte auf mir, und ich hatte das Gefühl, dass ihm nicht die kleinste Kleinigkeit entging. Er trug einen silbernen Anhänger um den Hals: einen Halbmond, in den fremdartige Symbole graviert waren.
Lässig trommelte er mit den Fingern auf dem Tisch. «So», sagte er. «Irgendwelche Ideen?»
Ich starrte ihn fragend an.
«Für das Gedicht», erinnerte er mich und hob die Augenbrauen.
«Du fängst an», erwiderte ich. «Ich denke noch nach.»
«Sehr gut», sagte er. «Hast du Vorlieben für irgendwelche Metaphern? Regenwälder oder Regenbogen, so etwas in der Art?» Er lachte, als hätte er eine Art Insiderwitz gemacht. «Ich für meinen Teil habe eine Schwäche für Reptilien.»
«Was soll das bedeuten?», fragte ich neugierig.
«Eine Schwäche für etwas zu haben heißt, dass man es mag.»
«Ich weiß, was Schwäche bedeutet, aber warum Reptilien?»
«Dickhäutig und kaltblütig», sagte Jake und zeigte ein Lächeln.
Er drehte sich plötzlich von mir weg, kritzelte etwas auf einen kleinen Zettel, knüllte ihn zu einem Ball zusammen und warf ihn zu den beiden Goth-Mädchen, Alicia und Alexandra, die vor uns saßen und sich eifrig schreibend über ihre Hefte gebeugt hatten. Sie sahen genervt herüber, doch ihre Gereiztheit schwand schnell, als sie sahen, wer ihr «Brieffreund» war. Sie überflogen den Brief schnell und flüsterten sich aufgeregt etwas zu. Alicia warf Jake unter ihrem dicken Pony hervor einen kurzen Blick zu und nickte fast unmerklich. Jake zwinkerte und lehnte sich, offenbar zufrieden mit dem Ergebnis, auf seinem Stuhl zurück.
«Das Thema ist also die Liebe», fuhr er fort.
«Was?», fragte ich verwirrt.
«Für unser Gedicht.» Er sah mich an. «Hast du das schon wieder vergessen?»
«Ich war nur gerade
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